Der Weihnachtsmann-Vorfall
Kalle Baumgart war Schornsteinfeger. Er war es seit fast dreißig Jahren und er liebte seinen Beruf. Er war Schornsteinfeger aus Passion und besaß die drei Eigenschaften, die einen Schornsteinfeger auszeichnen sollten: er war schwindelfrei, zuverlässig und beliebt bei seinen Kunden.
Jeden Tag seit dreißig Jahren war er mit Kehrbesen und Schultereisen aus seinem Haus getreten, hatte die Morgensonne begrüßt und war das ihm zugeteilte Gebiet abgegangen um die Schornsteine der Häuser auf geheime Verschmutzung und Bausicherheit hin zu überprüfen. Nie, in den ganzen dreißig Jahren seiner Berufstätigkeit nicht ein einziges Mal, war er krank gewesen, unpünktlich oder hatte einen Schornstein nicht vorschriftsmäßig gereinigt und überprüft. Wenn er durch die Straßen seines Bezirkes ging, rissen sich die Kinder darum, ihn zu berühren, denn Schornsteinfeger bringen Glück, wie jedes Kind nun einmal weiß. Sie bringen den Menschen Glück, das ist so wahr wie nur irgend etwas sonst in unserer schönen Welt und auch diesen Aspekt seines Berufslebens nahm Kalle Baumgart so ernst wie nur jeden anderen.
Aber Schornsteinfeger, mögen sie selbst auch Glücksbringer sein, haben deshalb selbst nicht immer Glück. Auf jeden Fall nicht an jedem Tage einer fast dreißigjährigen Berufstätigkeit, das musste Kalle Baumgart an einem kalten Sonntag im Dezember lernen, als er früh am Morgen einen handgeschriebenen Zettel aus seinem Briefkasten fischte. Auf diesem Zettel stand, in der unzweifelhaft eigenen Schrift des Innungsmeisters, geschrieben, dass dieser Kalle darum bitte, ausnahmsweise und nur dieses eine Mal, an einem Sonntag Abend mit Kehrbesen und Schultereisen auszurücken und auf das Haus der Familie Holzmann zu steigen um den Schornstein ordentlich mit dem Besen zu bearbeiten. Gerade am zurück liegenden Freitag Abend hatte sich unerwartet Dreck von den Wänden des betreffenden Kamins gelöst und war in das innere der Wohnung der Holzmanns gefallen, und dies in dem Moment, in dem der Vater, in froher Erwartung des baldigen Weihnachtsfestes, die Holzscheite in vorgenanntem Kamin entzündet hatte um seiner Familie schon einmal vorweihnachtlich einzuheizen.
Nun war es zwar Sonntag, Nikolaus-Sonntag noch dazu, und durchaus nicht üblich einen Schornsteinfeger seiner verdienten Wochenendruhe zu berauben um an das andere Ende der Stadt zu fahren und dort einen und nur einen Kamin zu reinigen. Andererseits liebte Kalle Baumgart, selbst kinderlos, Kinder fast ebenso sehr wie seinen Beruf. Die Vorstellung beflügelte ihn, dass an einem Sonntag besonders viele von ihnen die Straße bevölkern und sich bereit finden würden, ihn zu berühren um sich so ein Stück von dem Glück zu holen, dass in Wirklichkeit sie ihm gaben mit ihren fröhlichen Schreien und schüchternen Nachfragen, ob eine Berührung seines Ruß geschwärzten Anzuges gestattet sei.
Warum also nicht fröhlich das Werkzeug geschultert und sich am Abend noch auf den Weg gemacht, durch die Straßen seines Bezirkes und eben aufs Dach und gut. Die Familie Holzmann selber würde während seiner Arbeit nicht anwesend sein, ein Umstand, den man den Instruktionen des Innungsmeisters nach getrost in Kauf nehmen konnte, da besagter Kamin gut über die Außenwand zu erreichen sei. Er solle sich keine Sorgen machen, die Nachbarschaft war auf seinen Besuch vorbereitet, man wusste ja nie, von wegen eventueller Einbrecher, aber man würde sich nicht an ihn stören, wie er sich nicht an irgend jemand Anderem zu stören brauchte. So zog er sich am Abend um, warf seiner lieben Frau eine Kusshand zu und machte sich auf den Weg. Es würde früh dunkel werden, schließlich war schon Dezember. Für die Reinigung des Kamins veranschlagte er eine knappe halbe Stunde, der Weg zum Haus der Holzmanns würde noch einmal eine halbe Stunde seiner Zeit kosten und wenn er nicht zögerte und alles mit der gewohnten Routine erledigte, würde er sich zur Tagesschau und zum allsonntäglichen ‘Tatort’ wieder bei seinem geliebten Weib einfinden können um den Sonntag-Abend noch familiär und mit Anstand zu beenden.
Gesagt getan, der Weg durch die Stadt entsprach den Erwartungen Kalle Baumgarts. Kinder waren zahlreich zugegen. Er hatte Gelegenheit genug seiner Aufgabe als Glücksbringer gerecht zu werden und am Wegesrand war auch so mancher Plausch mit in der Nähe weilenden Eltern zu machen, so dass es schon etwas dunkel wurde als er endlich das Haus erreichte und mit der Arbeit beginnen konnte.
An der Hauswand lehnte schon eine für ihn vorbereitete Leiter. Kalle Baumgart erreichte bequem den Schornstein, rollte seinen Stahlbesen aus und begann unverzüglich mit der Reinigung. Die Sonne ging langsam unter und von seinem Posten aus hatte Kalle Baumgart den wohl aufregendsten Blick auf einen Sonnenuntergang den fleißige Arbeitnehmer während ihres aufopferungsvollen Dienstes zu genießen in der Lage sind. Der Besen fuhr den Kamin hinab und hinauf, der Schmutz rumpelte fein und nur für die scharfen Ohren eines geübten Schornsteinfegers hörbar, die Wände hinunter und in den unten vorsorglich gegen den Wohnbereich abgedichteten Kamin. Kalle Baumgart pfiff ein fröhliches Lied vor sich hin, rief der Sonne noch einen Gruß hinterher bevor sie hinter den letzten Häusern verschwand, dann spürte er plötzlich und vollkommen unerwartet einen heftigen Stoß im Kreuz und sah die Innenwände des Kamins auf sich zukommen. Eben konnte er noch denken, dass es so ausgesehen hatte, als rase ein Schlitten mit sechs Rentieren davor auf ihn zu, dann verlor er auch schon das Bewusstsein.
***
Als Kalle Baumgart endlich wieder wach wurde und den matten Widerschein einfallenden Mondlichtes erblickte, starrte er in zwei rote, große Augen, die ihn böse ansahen. Kalle Baumgart zwinkerte daraufhin mit seinen Augen, aber das Augenpaar direkt ihm gegenüber verschwand nicht etwa, nein, es vergrößerte sich nur und bekam, je mehr Kalle Baumgart sich an das Zwielicht gewöhnte, ein paar dichte, schneeweiße Augenbrauen, eine dicke rote Nase und einen den Augenbrauen ähnlichen, schneeweißen langen Bart.
„Was ist passiert?“ hauchte Kalle Baumgart atemlos und etwas verwirrt.
„Du bist in den Kamin gefallen“, trompetete eine Stimme unter dem schneeweißen Bart hervor.
„Aber“, hauchte Kalle Baumgart etwas weniger atemlos, dafür aber etwas verwirrter, weil die Ansammlung von Bart, Nase und großen roten Augen sich insgesamt nicht etwa als eine Halluzination, sondern als ganz und gar wahres Gesicht herausstellte. Ein Gesicht, das ihn anstarrte und darauf zu achten schien, was er als erstes tun würde.
„Das ist mir ja noch nie passiert,“ hauchte Kalle Baumgart weiter.
„Irgendwann ist immer das erste Mal“, trompetete das Gesicht und sah ihn unverwandt böse an.
Kalle Baumgart traute sich nicht, weiter zu reden, aus Angst davor, dass die Halluzination wieder zu sprechen anfangen würde. Besser, so dachte er bei sich, ich schweige. Vielleicht werde ich dann wieder wach und vernünftig und alles hat wieder seinen Platz und ich bin nicht in den Kamin gefallen und alles ist gut. Ich steige hinunter und lasse den Kamin Kamin sein und gehe nach Hause zu meiner Frau und Schluss. Sicher hat ein Vogel mich am Kopf getroffen, so etwas kommt vor, ein Vogel hat auf seiner üblichen Route den Luftraum über dem Dach gekreuzt und ist mir an den Kopf geknallt, davon kann man schon Mal ohnmächtig werden und fallen, besser ich sage gar nichts mehr und reize die Halluzination nicht, dann wird sie schon verschwinden, gerade so wie ein Kater nach einer durchzechten Nacht, und viel mehr ist es ja auch nicht, es ...
„Hör auf so viel zu denken“ trompetete ihn das Gesicht an, „Kein Vogel könnte einen ausgewachsenen Mann so hart treffen, dass er gleich in den Kamin plumpst. Denken hilft uns jetzt nicht weiter.“
Kalle Baumgart machte den Mund auf und starrte das Gesicht an.
„Und mach den Mund zu“, trompetete das Gesicht weiter, „sonst fliegen dir noch die Fledermäuse hinein, die mit Sicherheit hier in diesem verdammten Kamin hausen.“
„Du .. D- ... D- ... Du“ stotterte Kalle Baumgart.
„Ja“, trompetete das Gesicht, „ich kann Gedanken lesen. Wie sonst glaubst du denn, kann ich jedem die Geschenke bringen die er sich wünscht? Glaubst du etwa, ich lese die Briefe? Dann wäre ich ja so um die Osterzeit herum vielleicht einmal fertig und könnte mir meinen Urlaub verkneifen. Das könnte euch wohl so passen. Schließlich habe ich ein wenig mehr zu tun als für euch den Postboten zu spielen. Strategisches Management ist heutzutage gefragt. Shareholder Value. Warentermingeschäfte: Sagt dir das vielleicht etwas? Du denkst wohl, ich schnitze das alles alleine, was? Und den ganzen elektronischen Kram, den jetzt alle wollen. Hast du schon einmal versucht, eine Nintendo-Spielebox aus gutem altem Fichtenholz fertig zu bekommen? Unmöglich, sage ich dir. Da muss man Out-Sourcen und sich den allgemeinen Marktbedingungen anpassen. Gut, seit jeder so ein verfluchtes Handy haben will, ist es etwas leichter geworden, zumindest was den Transport angeht. Aber hast du schon einmal ein halbes Dutzend Rentiere gesehen, wenn es mit diesen Klingeltönen los geht? Eine verdammte Stampede, wenn du weißt, wovon ich rede, diese blöden Viecher ...“
Das Gesicht vor Kalle Baumgart trompetete weiter und Kalle Baumgart wurde langsam klar, dass es sich bei dem Gesicht erstens nicht um eine Halluzination und zweitens um das Gesicht eines Weihnachtsmannes handelte, das da auf ihn einredete als gelte es, die Mauern des Kamins in dem sie steckten, einzureißen wie einst Joshua die Mauern von Jericho durch unausgesetztes Trompeten hatte einstürzen lassen. Er versuchte nach unten zu sehen, aber es war nicht mehr zu erblicken als ein langer weißer Bart und darunter ein großer roter Blasebalg bei dem es sich zweifellos um den Bauch des Mannes in dem Weihnachtsmann-Kostüm handelte. Kalle Baumgart drehte mühsam seinen Kopf nach oben und sah hoch. Sie waren etwa auf dem ersten Drittel der Höhe des Kamins und bis unten waren es bestimmt noch gute zehn bis zwölf Meter. Sie steckten fest wie eine Gräte in einer Speiseröhre - nur wenn das Haus hustete, würden sie wieder nach oben hinaus in die Freiheit geschleudert und das war ziemlich unwahrscheinlich. Häuser rauchten zwar, das wusste er aus langer Berufserfahrung, aber sie husteten nun einmal nicht. Der Mann in dem Kostüm drückte ihn mit seinem vorgewölbten kugelrunden Bauch gegen die Wand des Kamins und rettete ihnen beiden damit das Leben. Ohne diesen Bauch, das wurde Kalle Baumgart langsam klar, wären sie beide, er und der Mann in dem Weihnachtsmann-Kostüm, den Kamin hinunter und in den sicheren Tod gefallen, denn so viel war sicher: es reichte für einen Sturz bei dem man sich das Genick brechen konnte.
„... dann muss man diesen dummen Zwergen ganz nett Feuer unter dem Hintern machen, damit sie parieren“, hörte er den Mann in dem Weihnachtsmann-Kostüm gerade sagen.
„Wie sind Sie denn hier hereingekommen, wenn ich höflichst fragen darf und was haben Sie auf meinem Dach gemacht?“ unterbrach Kalle Baumgart.
Der Mann in dem Kostüm eines Weihnachtsmannes verstummte und sah ihn einen Moment lang an, dann brüllte er los vor Lachen, so dass sein großer Bauch wackelte und Kalle Baumgart im Rhythmus der an- und abschwellenden Lachsalven gegen die Kaminwand gedrückt wurde. Fast wäre er wieder ohnmächtig geworden, so sehr presste ihn das Gewicht des fremden Mannes gegen die harten Steine in seinem Rücken.
„Sie haben wohl nicht richtig zugehört?“ trompetete der Mann im Kostüm eines Weihnachtsmannes, „Ich bin doch nicht zum Spaß hier. Mann, Sie sind ja lustig. Ich habe Termine, verstehen Sie? Ich kann hier nicht den ganzen Tag auf irgendwelchen Dächern herum gammeln und mich mit herein gefallenen Dieben herumplagen."
"Diebe?" Kalle Baumgart war baff, "Ich bin doch kein Dieb. Es ist mein Beruf hier zu sein, ich …"
"Was machen Sie denn so beruflich?“ unterbrach der Mann im Kostüm eines Weihnachtsmannes Kalle Baumgart.
„So lassen Sie mich doch einmal ausreden", erwiderte Kalle Baumgart wütend, "ich bin Schornsteinfeger.“
„Mhh“, brummte der Mann im Kostüm eines Weihnachtsmannes und schwieg wieder. Beleidigend lange.
„Was ist dagegen einzuwenden?“ wollte Kalle Baumgart wissen.
„Wogegen einzuwenden?“ fragte der Mann im Kostüm eines Weihnachtsmannes mit Unschuldsmiene.
„Gegen meinen Beruf“, antwortet Kalle Baumgart beleidigt.
„Nichts, gar nichts“, fistelte der Weihnachtsmann mit auffällig hoher Stimme und fügte nach einer Weile hinzu: “Sie sind schmutzig.“
„Schmutzig?“ Kalle Baumgart wurde so rot vor Zorn, wie der Mantel des Mannes dessen Leibesfülle sie vor dem Abstürzen bewahrte, „Das ist kein Schmutz, das ist Ruß. Ruß ist das. Das kommt aus dem Kamin und ist kein Dreck ... SIE ... SIE“
Kalle Baumgart fing an, sich zu verhaspeln vor Wut. Er wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte. Er hätte gern seine Arme zu Hilfe genommen um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, aber es war zu eng. Hilflos hingen seine Arme zu beiden Seiten seines Körpers fest. Dieser Kerl war wirklich außerordentlich arrogant für jemanden, der nichts weiter war als … Ja, fragte sich Kalle Baumgart, was war das eigentlich für ein Kerl mit dem er sich in einer solch ungewöhnlichen Lage befand?
"Was machen SIE denn so beruflich?" fragte er, bemüht, sich einen ruhigen Ausdruck zu geben.
"Sieht man das nicht?" brummte der Mann im Kostüm eines Weihnachtsmannes mit deutlich tiefer gelegter Stimme, "ich bin der Weihnachtsmann."
"Hi, Hi, Hi", Kalle Baumgart fing unwillkürlich an zu kichern, "Der Weihnachtsmann. Natürlich. Wirklich nettes Kostüm. Aber sagen Sie mal ehrlich. Kann man davon eigentlich leben? Für einen Studenten sind Sie doch schon zu alt. Da machen Sie doch sicher noch etwas nebenbei …"
Kalle Baumgart redete weiter, vergaß aber sofort wieder was er sagte, weil er damit beschäftigt war, dem rot glühenden Augenpaar auszuweichen, das auf ihn zukam und ihn verärgert anstarrte.
"Das ist kein Witz, Mann", zischte der Mann im Kostüm eines Weihnachtsmannes Kalle Baumgart an, "ich BIN der Weihnachtsmann."
"Beweisen Sie's" zischte Kalle Baumgart zurück, "Wo sind denn die Geschenke, die Sie mitbringen? Na, wo sind sie denn? Wo sind sie denn?"
"Die sind mir runter gefallen als mein Schlitten gegen deine dämliche Leiter geprallt ist, die ganz vorschriftswidrig gegen MEINEN Kamin gelehnt war.“
„Eigene Schuld“, erwiderte Kalle Baumgart, „man hält sich eben an seine Terminpläne, dann kommt so etwas auch nicht vor. Außerdem ist das nicht DEIN Kamin, sondern er gehört meinen Kunden und deshalb im eigentlichen Sinne MIR, laut Landesbau- und Feuerungsverordnung sind wir als Schornsteinfeger nämlich verpflichtet … “
„Was soll das denn heißen“, raunzte der Weihnachtsmann und kam so nah an Kalle Baumgart heran, dass sich sein Bart zwischen Kalle Baumgarts Lippen zwängte und ihm ein Weiterreden unmöglich machte, "ich bin schon auf Schornsteine gestiegen, da gab es noch gar keine Schornsteinfeger, geschweige denn eine Landesfeuerungsverordnung. Außerdem ist heut Nikolaus, falls Ihnen das entgangen sein sollte und ich bin es den Kindern schuldig …"
"Den Kindern? Den Kindern?" unterbrach Kalle Baumgart und leckte sich so gut es ging die Bartfusseln seines Gegenüber von den Lippen, "das ganze Jahr über lässt DU dich doch nicht blicken, während ich immer da bin und den Kindern Glück bringe. DICH sieht man doch höchstens einmal, wenn du mit deinem Schlitten über den Himmel schwirrst und dann doch auch nur von hinten. Also reg dich mal nicht so auf, du … du … WEIHNACHTSMANN."
Kalle Baumgart schwieg. Zum einen fiel ihm nichts mehr ein, der letzte Satz, den er gesagt hatte, hing wie Blei in der Luft und die Tatsache, dass ihm nichts besseres eingefallen war als den Mann vor ihm als 'Weihnachtsmann' zu beschimpfen, war ihm plötzlich unangenehm. Das Gesicht vor ihm sah aus, als wolle es jeden Moment in Tränen ausbrechen und ihm wurde bewusst, dass es ihm auch nicht recht gewesen wäre, wenn jemand IHN als 'Du Schornsteinfeger' bezeichnet hätte. Man konnte ja nichts für seinen Beruf, schon gar nicht, wenn es ein so schöner war wie der des Schornsteinfegers, und wenn man einen schönen Beruf hatte, dann taugte die Berufsbezeichnung auch nicht für eine Beschimpfung.
„Ist schon gut" seufzte der Weihnachtsmann, zu müde um den begonnen Streit fortzusetzen, „Ich wollte ja nur etwas Konversation machen.“
Es wurde ruhig im Kamin. Vorsichtig versuchte Kalle Baumgart, sich etwas von seinem Gegenüber weg zu bewegen, aber sofort fiel ihm wieder ein, dass nichts anderes als die Leibesfülle seines Gegenüber sie beide vom tödlichen Sturz abhielt.
Besser er vermied es ganz, sich zu bewegen.
Er sah das Gesicht vor sich an. Mit einem etwas seltsamen Gefühl wurde ihm bewusst, dass er damit begonnen hatte, sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass es sich tatsächlich um den Weihnachtsmann handelte, mit dem gemeinsam er im Kamin der Familie Holzmann fest saß. Seine Frau würde ihm das nicht glauben, wenn er es Zuhause erzählte. Er hatte schon Katzen aus Kaminen geholt, Fußbälle und sogar einmal ein Kind, das allerdings von unten in den Kamin geklettert und dann stecken geblieben war, aber einen Weihnachtsmann? Niemand würde ihm das abkaufen, also würde er es besser gar nicht erst erzählen, wenn er denn überhaupt je wieder hier herauskommen würde. Aber irgendwann mussten ja die Holzmanns zurückkommen, und auch wenn es entsetzlich peinlich war, er würde sofort nach Hilfe rufen und sich notfalls von der Feuerwehr retten lassen.
Nur um den Gedanken an eine peinliche Rettung zu verdrängen, hätte Kalle Baumgart jetzt gern etwas gesagt. Etwas in der Richtung, dass er natürlich doch an die Existenz eines Weihnachtsmannes glaubte, aber dann dachte er, dass man Wunden die gerade verheilten, besser nicht aufreißen sollte und schwieg weiter. Er dachte an den Schlitten mit den Rentieren, den er gesehen hatte, kurz bevor er in den Kamin gefallen war. Er erinnerte sich an die leuchtend roten Nasen, die die Rentiere gehabt hatten und an das blitzende Geschirr und das Geräusch der Glocken die im dunklen Himmel hell und klar gebimmelt hatten. Zweifellos war dies das Gefährt gewesen, das er seit seinen Kindertagen als das Gefährt des Weihnachtsmannes kannte.
Draußen verschwand der Mond hinter einer Wolkenbank und es wurde schwarz im Kamin, nur die Atemzüge der beiden Männer waren zu hören und ab und zu ein Seufzer, von dem man nicht wusste, von wo er kam. Kalle Baumgart dachte weiter darüber nach, in welche Schwierigkeiten ihn die Tatsache bringen würde, dass er an den Weihnachtsmann glaubte. Dann dachte er an das hämische Gelächter der Kollegen von der Feuerwehr, wenn sie ihn und einen als Weihnachtsmann kostümierten Mann aus dem Schornstein ziehen würden.
Plötzlich sagte der Weihnachtsmann, offensichtlich nur um sich nicht ganz geschlagen zu geben:
„Sie machen mir mein Kostüm dreckig mit Ihrem Ruß.“
„Kostüm?“, ergriff Kalle Baumgart, glücklich darüber, nicht weiter über die Existenz oder Nicht-Existenz eines Weihnachtsmannes nachdenken zu müssen, den Strohhalm, der ihm geboten wurde, „Kostüm, Kostüm, Sie haben es selber gesagt: Kostüm. Sie sind nicht echt, Sie können nicht echt sein. Es gibt keinen Weihnachtsmann, geben Sie’s zu. Es gibt Sie gar nicht und Sie können auch keine Gedanken lesen.“
„Soll ich Ihnen sagen, was Sie eben über Ihre Kollegen von der Feuerwehr gedacht haben?“ brummte der Weihnachtsmann.
Kalle Baumgart schwieg betreten. Es wurde wieder ruhig im Kamin.
Sie warteten.
„Worauf warten wir eigentlich?“ fragte Kalle Baumgart laut. Weihnachtsmann hin oder her, die Sache wurde ihm zu bunt. Er wollte nach Hause, zu seiner Frau. Die unbequeme Lage machte seinem Körper zu schaffen, die Schwerkraft zog an ihnen ohne sie zu befreien. Mit einem Wort, es wurde langsam anstrengend in der Luft über dem Abgrund zu hängen.
„Darauf dass uns jemand befreit, natürlich“, brummte der Weihnachtsmann.
„Aber Sie sind doch der Weihnachtsmann" fiel Kalle Baumgart plötzlich ein, "Sie können doch fliegen, zaubern, hexen, was weiß ich. Sie müssen doch irgendetwas machen können, um uns hier heraus zu holen."
"Für so etwas bin ich nicht zuständig", brummte der Weihnachtsmann, "was würden Sie sagen, wenn Sie jemand bittet, sich einmal das Badezimmer in seinem Haus anzusehen, nur weil sie mit Werkzeug umgehen können?"
"Da haben Sie wohl recht" antwortete Kalle Baumgart nachdenklich, "Berufsehre ist Berufsehre, da gibt es nichts zu rütteln. Selbst wenn man könnte, man darf es nicht. Da würde ja die Innung…"
"Mhh," brummte der Weihnachtsmann, "vielleicht ja doch."
"Wie bitte?" Kalle Baumgart verstand nicht ganz.
"Na, zu rütteln", antwortete der Weihnachtsmann, "Vielleicht können wir durch vorsichtiges Rütteln erreichen, dass wir langsam runter rutschen. Wir müssen uns nur ein wenig bewegen und dabei aufpassen, dass wir nicht den Kontakt mit den Wänden verlieren, dann rutschen wir vielleicht ganz langsam runter und kommen heile unten im Kamin an."
"Wie kommen Sie denn sonst hinunter?" wollte Kalle Baumgart wissen, "Sie müssen doch irgendwie den Kamin runter kommen und die Geschenke …"
"Alles Gerüchte" knurrte der Weihnachtsmann, "ich werfe die Dinger in den Schornstein und gut ist. Können wir jetzt?"
Kalle Baumgart nickte und fing an, langsam mit den Schultern an der Wand des Kamins hinab zu rutschen. Der Schweiß brach ihm aus. Sie steckten so fest wie zwei Dübel, die man nebeneinander in eine Betonwand gehämmert hatte. Auch der Weihnachtsmann fing an zu keuchen. Schweiß lief ihm in seinen langen weißen Bart. Ihre Schultern bewegten sich rhythmisch auf und ab, gleichzeitig versuchten sie, mit dem gesamten Körper schlangengleiche Bewegungen nach unten zu machen, was erstens gerade dem Weihnachtsmann aufgrund seiner Leibesfülle nur sehr unzureichend gelang, zweitens zu nichts weiter führte als zu einem leichten Abrieb der Kaminwände und drittens beiden Männern einige sehr ungewöhnliche Überlegungen hinsichtlich der Position ihrer Unterleiber zueinander bescherte.
"Nichts zu machen" keuchte der Weihnachtsmann.
"Weiter", keuchte Kalle Baumgart zurück.
"Nichts da", knurrte der Weihnachtsmann, "wir stecken nur noch mehr fest. Merken Sie nicht, dass wir hier ohne Hilfe nicht herauskommen?"
"Sie müssen sich nur mehr anstrengen, dann wird es schon gehen."
"Machen Sie sich keine Hoffnungen" erwiderte der Weihnachtsmann mit einem anzüglichen Lächeln.
Kalle Baumgart wurde puterrot.
"Im Gegensatz zu Ihnen bin ICH glücklich verheiratet."
"Wie bitte?" jetzt wurde der Weihnachtsmann wirklich wütend, "Was soll das denn heißen? Werden sie nur nicht frech, sonst atme ich einmal kräftig ein und zerdrücke Sie wie eine Fliege an der Wand."
Der Weihnachtsmann holte tief Luft. Sein dicker Bauch drückte gegen Kalle Baumgart. Kalle Baumgart wurde schwindelig. Seine Backen plusterten sich auf und prustend entwich die Luft aus seinen Lungen.
"Uuuff", machte Kalle Baumgart.
"Ööörchel", machte der Weihnachtsmann und ließ pfeifend die Luft aus seinen Lungen entweichen, die er angesammelt hatte um seinen Beleidiger zu zerquetschen, mit dem Ergebnis, dass sie plötzlich beide aufgrund der entweichenden Luft um die Hälfte ihres Volumens geschrumpft, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Kamin hinunter rutschten und erst zwei Meter tiefer mit einem schmerzhaften Bremseffekt zum Stehen kamen. Kalle Baumgart flog ein Schuh vom Fuß. Der Schuh blieb unten in der Asche des Kamins mit einem dünnen ‘Plopp’ liegen.
„Mein Gott", keuchte erschrocken der Weihnachtsmann und versuchte sich klopfenden Herzens von dem Beinah-Sturz zu erholen, "Ich dachte, Sie bringen Glück“
„Und ich dachte, Sie bringen die Geschenke“, keuchte Kalle Baumgart zurück.
„Ho, Ho, Ho“, dröhnte der Weihnachtsmann, "Sarkasmus hilft uns jetzt nicht weiter. Auf jeden Fall wissen wir nun, wie wir hier heraus kommen, ohne uns den Hals zu …"
"Seien Sie doch mal still", zischte Kalle Baumgart, "ich höre etwas."
Von unten war deutlich das Kläffen eines Hundes zu vernehmen und dann eine Stimme die sagte:
"Nun sieh dir das Mal an, Margot. Der Hund wird immer schlimmer, jetzt verschleppt er schon meine Schuhe und deponiert sie im Kamin."
Kalle Baumgart verbog sich seinen Hals und spähte über seine Schulter den Kaminschacht hinunter. Unten konnte er eine Hand erspähen, die in den offenen Raum unter ihnen langte und seinen Schuh aus der Asche entfernte. Dann war eine zweite Stimme zu hören:
"So was aber auch, nimm den Schuh doch einfach heraus und mach es uns etwas gemütlich. Der Schornsteinfeger war doch bestimmt schon da und die Kinder warten schon auf den Nikolaus."
Der Weihnachtsmann stöhnte, verkniff sich aber jeden Kommentar.
"Der will doch jetzt kein Feuer machen da unten?!", flüsterte Kalle Baumgart entsetzt.
"Anscheinend doch" erwiderte der Weihnachtsmann, "mir wird schon ganz warm ums Herz. Wir müssen etwas unternehmen. Sofort."
"Da gibt es nur eins", gab Kalle Baumgart zu bedenken, "Ausatmen und sich den Gesetzen der Schwerkraft überlassen."
"Meinen Sie?"
"Auf jeden Fall" bestätigte Kalle Baumgart.
"Hören Sie" druckste der Weihnachtsmann, "es ist mir etwas unangenehm, aber es ist nicht üblich, dass ich mich meinen Kunden so nah zeige. Könnten wir, wenn wir unten sind, uns nicht darauf einigen, dass wir Kollegen sind und…"
"Eine Weihnachts-Sonderaktion der Schornsteinfeger-Innung?" ergänzte Kalle Baumgart.
"Mit Kostüm", lächelte der Weihnachtsmann, "Das wäre sehr freundlich von Ihnen."
"Kein Problem" lächelte Kalle Baumgart zurück, "es war nett, Sie einmal persönlich kennen zu lernen."
"Ebenfalls" lächelte der Weihnachtsmann das weihnachtlichste Lächeln, das er überhaupt im Reportoir hatte und ließ sogar gerührt eine Träne seine roten Backen hinunter und in seinen langen schneeweißen Bart rollen.
"Na dann los", murmelte Kalle Baumgart und ließ schon mal die Luft aus seinen Lungen.
"Und los" murmelte der Weihnachtsmann und brüllte so laut er konnte: "Obacht, jetzt kommen die Geschenke."
Dann rutschten sie gemeinsam den engen Schacht hinunter und landeten mit einem erschrockenen Aufschrei in der Asche des Holzmannschen Kamins.