Das Kr-rick
Sie sah das Kr-rick als sie am Herd stand und für sich und Martin das Abendessen zubereitete. Es saß auf einem Reiskorn. Sie hätte es fast nicht gesehen. Sie hatte den Reis aus dem Beutel in den Topf geschüttet und war gerade dabei, Wasser in den Topf zu gießen. Eines der Reiskörner klebte am oberen Rand des Topfes und das Kr-rick hatte sich darauf gesetzt und breitete sich in einer Art winziger Aura um das Korn herum aus. Von den Körnern am Boden des Topfes ging ein warmes, leicht gelbliches Leuchten aus, nur das Reiskorn, das am oberen Rande des Topfes klebte, leuchtete kalt und weiß und hob sich deutlich gegen das dunklere Blau des Topfes ab. Sie hielt den Krug mit dem Wasser in beiden Händen. Aus dem Wohnzimmer kam Musik. Dire Straits. Ihre Lieblingsmusik. Martin hatte Kerzen auf den Tisch gestellt und den Tisch gedeckt. Es sollte ein romantischer Abend werden. Sie waren in der Stadt gewesen und danach etwas spazieren, hatten ein Eis gegessen und gelacht und sich unterhalten und sie war in die Küche gegangen um etwas kaltes Huhn aufzutauen und etwas Reis dazu zu machen. Sie hatte ein gutes Gefühl gehabt. Sie waren frisch verheiratet und alles war noch so, wie es sein sollte. Die Wohnung war frisch renoviert und gleich neben dem Wohnzimmer hatten sie ein Zimmer übrig. Ein schönes, helles Zimmer mit Fenster auf den Hinterhof. Martin wehrte sich noch, aber sie würde ihn schon weich bekommen.
Und jetzt saß da dieses Kr-rick auf dem Reiskorn und breitete sich in einer kreisrunden Fläche auf der blauen Emaille des Topfes aus. Es sah aus, als leuchte es von selbst. Sie sah den winzigen, braunen Punkt an dem einen Ende des Reiskorns, an dem es mit seiner Schale verbunden gewesen war. Der Punkt gab dem Reiskorn etwas unnatürliches, als wäre es in einer Fabrik hergestellt worden. An dem kleinen, braunen Punkt hatte es in einer Maschine gehangen und ein missmutiger Kobold mit einem hässlichen Gesicht oder sonst ein Wesen aus einer anderen Welt hatte mit einer winzigen Feile aus einem Stück Eis das Reiskorn mit dem Kr-rick geschnitzt.
Sie schüttelte den Kopf und lachte. Was kamen ihr da nur für dumme Gedanken. Zwerge, die Reiskörner aus Eis schnitzten. Was für ein Unsinn.
Sie spürte, wie ihre Arme anfingen zu zittern, von dem Krug mit Wasser den sie immer noch in beiden Händen hielt. In ihrem Kopf hallte ihr Lachen wieder. Es war kein gutes Lachen. Das Gefühl innerer Wärme, das sie den ganzen Tag über in ihrer Magengegend gespürt hatte, war plötzlich verschwunden. Stattdessen hatte sie das Gefühl, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen. Etwas, was hoch wollte.
Mit einer ärgerlichen Geste schüttete sie das Wasser aus dem Krug in den Topf und spülte das Reiskorn mit dem Kr-rick zu all den andern Reiskörnern. Es verschwand und vermischte sich mit dem Wasser, das sofort eine milchig trübe Färbung annahm.
Sie stellte den Krug auf den Tisch, lief hinaus und an einem überraschten Martin vorbei, in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett und weinte.
Martin wusste nicht was los war.
Sie wusste selbst nicht, was los war.
***
Als sie am nächsten Morgen wach wurde, hatte sich das Kr-rick an das Fußende ihres Bettes gesetzt. Es saß auf dem silberfarbenen Knauf ihres Bettgestells. Im ersten Moment sah es so aus, als handele es sich um einen Zahnpastafleck. Martin hatte die dumme Angewohnheit, abends, während des Zähne Putzens im Schlafzimmer herum zu laufen und sie durch den Schaum in seinem Mund hindurch über alle wichtigen Dinge zu informieren, die ihm im Laufe des Tages zugestoßen waren. Immer wieder fand sie beim Aufräumen dann kleine Spritzer Zahnpasta die sie mit ihrem Fingernagel entfernte, wenn sie schon angetrocknet waren. Aber das da war keine Zahnpasta. Sofort als sie es sah, war auch die Übelkeit wieder da. Als hätte sie ein Haar tief in der Kehle sitzen, dort wo sie es nicht einmal durch tiefes Schlucken oder Husten weg bekam. Das Kr-rick saß auf dem Pfosten und leuchtete genau so kalt, wie es gestern vom Reiskorn aus geleuchtet hatte. So kalt wie das Leuchten in ihrem Kopf, wenn sie sich einmal zu stark die Augen rieb und sich explodierende Lichtreflexe hinter ihren Augen bemerkbar machten.
Sie überwand ihren Widerwillen, warf die Bettdecke zur Seite und lehnte sich zum Bettpfosten hinüber. Das Kr-rick hatte eine scharf umrissene, kreisrunde Form. Sie streckte einen Finger aus, um es zu berühren. Es fühlte sich kalt an. Wie Trockeneis, aber ohne, dass sie daran kleben geblieben wäre.
Sie roch an ihrem Finger. Es roch nach Nichts. Es roch wie ein Zimmer, in dem noch nie jemand gewesen war. Wie ein von innen abgeschlossener Raum ohne Möbel. Sie kratzte mit ihrem Fingernagel an dem Kr-rick, aber es ließ sich nicht vom Bettpfosten lösen. Es war so sehr mit seinem Gegenstand verwachsen, dass es eigentlich der Gegenstand war.
Sie stand auf und setzte sich in den Sessel gegenüber dem Bett. In ihrem Bauch flatterte etwas. Es war nicht dieses Flattern, das sie immer hatte wenn sie an Martin dachte, kein Schmetterling. Es war eine Fledermaus. Eine schwarze, mit dichtem Fell überzogene, fliegende Ratte die da in ihrem Bauch hin und her flog und mit ihren ledernen Flügeln gegen ihre Magenwände stieß und dieses üble Gefühl machte als müsse sie gleich brechen.
Sie sah wieder zu dem Kr-rick hinüber.
Sie hatte das Gefühl, als sei es etwas größer geworden.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Reis zu essen, in dem sie gestern das Kr-rick verrührt hatte. Vielleicht war es eine Art Pilz, Schimmel den sie in sich aufgenommen hatte und der ihr jetzt Übelkeit verursachte. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und beobachtete weiter das Kr-rick, das langsam größer wurde und sich jetzt über den Knauf des Bettpfostens hinunter zur Bettdecke arbeitete. Es hatte seine kreisrunde Form verloren und überzog jetzt den gesamten Bettpfosten. Wenn sie es ansah, wurde ihr schwindelig. Der Pfosten sah hart und gleichzeitig zerbrechlich wie Glas aus. Kaltes Metall das in den Augen schmerzte.
Sie musste ins Badezimmer gehen und sich übergeben.
***
Am Abend bemerkte Martin, dass sie krank aussah. Sie hatte Ränder unter den Augen und keinen Appetit. Es war Wochenende und eigentlich hatten sie ins Kino gehen wollen, aber jetzt sagten sie ihren Freunden ab und Martin ging noch einmal los, um ihr etwas Tee für ihren Magen zu besorgen und ein Video als Ersatz für den ausgefallenen Kino-Abend. Sie war dankbar, dass er mit keinem Wort die unaufgeräumte Wohnung erwähnte. Sie hatte den ganzen Tag im Schlafzimmer gehockt und hatte zugesehen, wie das Kr-rick sich über den Pfosten und das Bett hinaus auf den Boden ausgebreitet hatte, die Wände hinauf geklettert war und schließlich auch das Badezimmer in Besitz genommen hatte. Alles glänzte im kalten Licht des Kr-rick und obwohl sie mittlerweile fürchterliche Angst hatte, verrückt zu werden, konnte sie ihren Blick nicht von dem immer weiter sich ausbreitenden Kr-rick abwenden, das sich wie ein Schatten über die Dinge legte, die sie liebte. Es kroch die Anrichte hoch, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und verschluckte die Fotos von Martin und ihrer Familie. Es legte sich auf die Gesichter auf den Fotos und saugte das Lächeln aus ihnen heraus und zurück blieben nur noch hoch gezogene Mundwinkel. Kalte Pantomimen vergangener Tage, in einer grotesken Nachahmung gefangen wie gefrorener Fisch.
In der Nacht lag Martin neben ihr und schnarchte leise, aber sie lag wach und sah zu, wie das Kr-rick an seinen Füßen hinauf kroch, die unter der starren Decke hervor lugten wie zwei weiße, tote Wachsklumpen.
***
Nach dem Wochenende ging Martin wieder zur Arbeit, und sie ging aus dem Haus und sah, wie das Kr-rick von der Welt Besitz ergriffen hatte. Sie hatte das Gefühl, dass es reichen würde, die Welt mit einem Finger zu berühren und alles würde zerspringen. Die Menschen sahen aus wie Hüllen, die man mit komplizierten Maschinen in ihrem Inneren versorgt hatte, damit sie all das taten, was Menschen getan hatten, bevor das Kr-rick gekommen war. Sie fing an, sich darüber Gedanken zu machen, wo es hergekommen sein konnte, ob es von dem Reiskorn aus, das sie im Topf gesehen hatte, sich über die Welt verbreitet hatte, aber sie konnte sich nicht erklären, wo es dann vorher gewesen war. Sie sah den bösen Zwerg vor sich, der an dem Reiskorn geschnitzt und das Kr-rick erschaffen hatte. Sein Schatten fiel über die Stadt. Der missmutige Handwerker-Zwerg hatte die Welt ausgetauscht um ihr zu zeigen, wie es wirklich aussah. Wie es aussah, wenn ein Gott sich langweilte und doch nicht aufhören konnte, zu erschaffen.
Sie ging wieder ins Haus, setzte sich in einen Sessel und dachte über den Handwerker-Zwerg nach. Es konnte nur so sein, dass der Zwerg immer schon da gewesen war, schon vor der Welt. Als die Welt fertig gewesen war, hatte er gesehen, dass es zu viel Leben war und hatte das Kr-rick erschaffen.
Martin kam nach Hause und sie sah, dass das Kr-rick auch von ihm schon vollkommen Besitz ergriffen hatte. Sie erkannte ihn noch an seiner Gestalt wieder, aber der frühere Martin war ganz verschwunden. Er tat so, als wäre er es noch, aber sie durchschaute ihn. Als er dann in seinem Bett lag, berührte sie ihn und er zersprang wie sprödes Glas und der Sprung, den ihr Finger auf seiner Haut gemacht hatte, setzte sich auf der Bettdecke fort, zackte sich weiter durch den Raum fort und riss den Boden entzwei, auf dem sie stand. Sie blickte in den Spiegel über dem Bett und sah, dass das Kr-rick wie morgenkalter Raureif ihren Körper hoch kroch, ihren Hals erreichte und über ihr Gesicht zog. Dann kroch es in ihre Augen und sie sah, dass es blinkte. Weiß wie ein Reiskorn.