1.
Es war dieser Sommer kurz nach der Jahrtausendwende, den man sicher den heißesten des Jahrhunderts genannt hätte, wenn das Jahrhundert nicht eben erst vorüber gewesen wäre. Und was noch kam, wusste man nicht. Er versuchte, tagsüber zu schlafen und nachts zu arbeiten. In seinem Job klappte das meistens. Wenn er wach wurde, hatte er das Gefühl, Blut im Mund zu haben, so heiß war es. Er trat an den Spiegel und machte den Mund auf, aber es war nur der Speichel, der sich in der Mittagshitze warm wie Blut anfühlte. Sein Name war Edward E. Kaltenbach, aber alle nannten ihn den 'kalten Eddi’. Eine genetische Besonderheit hatte ihm zwei verschiedenfarbige Augen beschert. Das rechte Auge war von einem warmen Braun, während das Linke in einem hellen, kalten Grau erstrahlte. "Eddi, du hast ein kaltes Auge", sagten die Frauen irgendwann zu ihm und gingen weg. So hatte er mehr Zeit für den Job. Alles hat irgendetwas Gutes an sich.
An diesem Tag macht Eddi abends um Acht sein Büro auf. In dem Bezirk, in dem er wohnt, arbeitet niemand vor Acht. Auf jeden Fall niemand, den er zu seinen Kunden gezählt hätte. Bis Acht sieht es auf den Straßen seines Bezirkes ganz normal aus, rechnet man mal die Leuchtreklamen, den Dreck auf den Gehwegen und die Penner, die zusammengekauert überall in den Ecken sitzen, ab. Bis er rüber muss in sein Büro, versucht Eddi also in seiner Wohnung etwas Ordnung zu schaffen und sich aus dem Kühlschrank etwas Verwertbares an Essen zu zaubern. Kurz vor Acht geht Eddi dann die Treppe hinunter, überquert die Straße, fegt mit den Füßen die leeren Flaschen und die Hamburger-Schachteln weg, die sich am Tage vor der Tür zu seinem Büro angesammelt haben und schließt auf. Es ist immer noch genau so heiß, wie den ganzen Tag über. Die Luft steht in dicken Scheiben in den Straßen, man schwimmt förmlich durch die Gegend und wenn man es sich leisten kann, setzt man sich irgendwo hin, starrt in einen Ventilator und versucht, an nichts zu denken. Zum hunderttausendsten Male überlegt Eddi sich, während er die Tür zu seinem Büro aufschließt, wie er in dieser Gegend der Stadt überhaupt hatte stecken bleiben können. In Jugendjahren hat er eine Lehre als Bankangestellter angefangen, aber bald wieder aufgehört. Wahrscheinlich waren tatsächlich seine Augen Schuld. Wer vertraute schon einem Mann mit einem kalten Auge sein Geld an?
Eddi macht die Tür auf, schiebt mit einem Fuß die Post beiseite und dreht das Licht an. Trotzdem es draußen noch hell ist, ist es in seinem Büro dunkel. Über der Eingangstür schiebt sich die Leuchtreklame eines Chinesen bis fast auf die Straße, so dass nie Sonne in die Fenster seines Büros fällt. Jetzt, in diesem Jahr, bei dieser Hitze, ist er froh darüber. Das Büro besteht aus zwei Räumen, dem ‘Wartezimmer’ in dem er jetzt steht, und dem eigentlichen Büro dahinter. Im Wartezimmer stehen nur ein paar Stühle und ein großer Billardtisch, der aber meistens mit einer großen Holzplatte abgedeckt ist. Eddi schließt die Tür hinter sich, fischt die Post vom Boden auf, und geht, während er Rechnungen und Reklame nach etwas Erfreulichem durchblättert, nach hinten. Hinter seinem Schreibtisch sitzt eine fremde Frau. Sie hat ein unauffälliges aber elegantes Kostüm an und Eddi meint, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
„Was machen Sie in meinem Büro?„, fragt Eddi, „Wie sind Sie hier herein gekommen?„
Die Frau deutet mit ihrem Kopf hinter sich. Hinter dem Schreibtisch geht es durch eine schmale Tür in den Hinterhof. Die Tür steht offen. Eddi sieht, dass das Schloss aufgebrochen ist. Im Hof kann man eine hässliche Hollywoodschaukel sehen, einen ebenso hässlichen Klapptisch davor und daneben ein paar überfüllte Mülleimer, aus dem sich gerade ein paar Katzen aus der Umgebung ihr Abendessen holen. Der Müll gehört dem Chinesen über ihm. Es riecht danach, dass es heute gibt, was es auch gestern schon gegeben hat.
„Waren Sie das?„, fragt Eddi und deutet auf das aufgebrochene Schloss.
"Trauen Sie mir das zu?„, antwortet die Frau, "Die Tür stand offen, als ich kam. Ich habe vorn geklopft und bin ums Haus herum gegangen, weil sich niemand gemeldet hat. Und weil die Tür schon offen war, bin ich hereingekommen. War das unhöflich von mir?"
Eddi antwortet nicht, tritt hinter den Schreibtisch und sieht sich das Schloss an. Wahrscheinlich Junkies, denkt er. Ein oder zweimal im Jahr kam es vor, dass Junkies bei ihm einbrachen. Er hat sich daran gewöhnt, weil sie meist nichts kaputt machten und nie etwas bei ihm fanden, was sie hätten gebrauchen können. Eddi sieht sich kurz im Büro um, macht die Schubladen an seinem Schreibtisch auf und stellt fest, dass nichts verschwunden ist. Zumindest auf den ersten Blick nicht. Tisch, Ventilator, ein alter Aktenschrank, drei Stühle, eine Stehlampe, der 15-Liter-Kühlschrank neben dem Tisch in dem er immer ein paar Flaschen Wasser und ein paar in Plastik geschweißte Sandwichs aufbewahrt. Zum Glück haben die Junkies nichts aus Wut kaputt gemacht. Eddi öffnet den Kühlschrank. Sogar die Sandwichs sind noch heil. Eddi will eben das Kühlfach aufklappen, um nichts auszulassen, als die Frau von seinem Platz aufsteht und mit einem verführerischen Duft im Schlepptau zwischen Eddi und seinem Kühlschrank vorbei um den Tisch herumgeht und sich auf einen der anderen Stühle setzt. Eddi lässt den Kühlschrank Kühlschrank sein und sich auf seinen Platz sinken, betätigt den Knopf am Ventilator und steckt seinen Kopf in Windrichtung. Die Frau vor ihm scheint überhaupt nicht zu schwitzen.
"Sie müssen mir helfen„, sagt sie zu Eddi.
"Dafür bin ich da, Lady„, antwortet Eddi. Er lebt in einem Milieu, in dem man, ohne weiter aufzufallen, Lady sagen kann.
"Mein Mann wird falsch beschuldigt„, sagt die Lady.
"Das ist schön für ihn. Die meisten werden zu Recht beschuldigt. Was kann ich da tun?„
Die Lady sieht Eddi einen Moment lang an, als überlege sie, ob sie nicht einen Fehler gemacht habe, dann sagt sie: „Sie kennen mich nicht?„
"Sie kommen mir bekannt vor.„
Die Lady nickt.
"Mein Name ist Roloff. Mein Mann und ich stehen im Licht der Öffentlichkeit. Mein Mann ist Vorsitzender im Kulturausschuss. Er hat eine Talkshow im Fernsehen. Politiker, Geschäftsleute, Berühmtheiten sitzen bei ihm auf dem Sofa und müssen ihm Rede und Antwort stehen. Er ist das Gewissen der Nation.„
Die Lady sieht Eddi an, als müsse er jetzt wissen, worum es geht. Aber Eddi sieht selten fern. Es reicht ihm, wenn er aus dem Fenster auf die Straße blickt. Die Welt in all ihrer Abscheulichkeit und trügerischen Schönheit liegt ihm zu Füßen.
"Das ist allerdings ein Grund, ihn zu beschuldigen„, sagt Eddi.
Die Lady sieht Eddi wieder mit diesem Blick an.
"Sie sind ein Zyniker. Ich weiß nicht, ob das das Richtige für uns ist.„
"Zahlen Sie mir genug, und ich höre auf ein Zyniker zu sein und bin, was Sie wollen„, sagt Eddi.
Die Lady steht auf. Man sieht ihr an, dass ihr nicht gefällt, was Eddi so sagt.
„Setzen Sie sich wieder„, sagt Eddi, „ich mache nur Witze.„
Die Lady setzt sich wieder.
„Meinem Mann wird vorgeworfen, Drogen genommen und sich mit Prostituierten abgegeben zu haben.„
„Und jetzt soll ich für Sie herausfinden, ob es stimmt?„, fragt Eddi.
Die Lady schüttelt den Kopf.
„Es stimmt nicht. Sie sollen herausfinden, warum man uns Böses nachsagt und wer uns schaden will."
Jetzt fällt Eddi ein, von wem die Lady als ihrem Mann redet: „Ist ihr Mann nicht der, von dem sie gestern ein Video in den Nachrichten hatten, auf dem er in offenem Bademantel mit ein paar ukrainischen Schönheiten zu sehen ist und auf dem Tisch vor ihm lagen ein paar lange, weiße Linien, die wohl kaum Puderzucker waren?„
Eddi hat das Video nicht gesehen, er hat in der Abendausgabe der Zeitung davon gelesen und ein paar verwackelte Fotos gesehen.
„Das war nicht mein Mann„, sagt die Lady.
"Gut, sehen wir erst einmal, dass wir die Formalitäten erledigen", sagt Eddi, zieht einen Standartvertrag aus seiner Schreibtischschublade und legt ihn vor der Lady auf den Tisch.
„Gehen Sie zu dem Reporter, der die Geschichte in die Presse gebracht hat und beobachten Sie ihn„, sagt die Lady, „ich will, dass Sie beweisen, dass es eine aufgebauschte Geschichte ist. Sehen Sie sich bei ihm um. Sicher hat der Mann Hintermänner. Immerhin geht es um Politik. Ich will wissen, wer so etwas macht.„
Eddi verkneift sich die Frage, was die Gewohnheiten ihres Mannes mit Politik zu tun haben, außer dass sie ihn dabei störten, dieselbe auszuüben, schiebt wortlos den Vertrag und einen Stift über den Tisch und sieht die Lady an.
"Was ist mit Ihren Augen?", will die Lady wissen.
"Die sehen immer so aus", sagt Eddi, "Geburtsfehler."
Die Lady nickt.
"Ich bekomme 250 Pauschale am Tag", sagt Eddi, "plus eine Erfolgsprämie von 2000 plus Spesen."
"Nicht gerade billig", sagt die Lady.
"Ich muss meinen Augenarzt bezahlen", sagt Eddi, "und ich habe Kinder, die nach Milch schreien. Machen Sie's oder lassen Sie's."
Die Lady sieht nicht danach aus, als glaube sie ihm. Aber sie unterschreibt den Vertrag, gibt Eddi die Adresse und die Telefonnummer des Mannes, den er beobachten soll und verschwindet durch die Vordertür.