"Ich halte mich in jedem Momente meines Lebens eines jeden Verbrechens für fähig".
Johann Wolfgang von Goethe
JANUAR
Nichts wies an diesem Morgen darauf hin, dass eine seltsame und für die Stadt geradezu atemberaubende Mordserie die erste Hälfte des kommenden Jahres überschatten würde. Das Wetter wich nur unwesentlich von dem für einen Januartag ausgewiesenem statistischen Mittel ab, der erste Berufsverkehr hatte sich gerade gelegt, Kinder waren in Schulen und Kindergärten gut aufgehoben, Angestellte legten in Büros Zeitungen beiseite um sich den Pflichten des Tages zuzuwenden, Hausfrauen stellten Radios an, um bei Musik und Werbung den Haushalt zu erledigen.
Alles in der Stadt ging seinen Gang.
Nur in der Prinzengasse, etwas außerhalb des Zentrums, war die Routine kurzfristig durch ein Ehedrama durchbrochen worden, dessen Ausgang zumindest für den morgigen Tag aufregende Frühstückslektüre versprach.
Kriminalkommissar Hans Klein hatte schon so einiges zu sehen bekommen, und auch, was er nun sah, vermochte nicht wirklich die Hülle aus angenehmer Gefühllosigkeit, die er sich im Laufe seines langen Polizistenlebens antrainiert hatte, zu durchbrechen.
Die Dame des Hauses hatte ihrem Angetrauten den Penis abgetrennt und diesen mit der Post an seine Geliebte am anderen Ende der Stadt geschickt. Und da die Post in der kleinen Stadt etwas schneller war als in der großen weiten Welt, hatte die Geliebte das Paket mit dem Vermächtnis ihres Geliebten schon am nächsten Tag, also früh an diesem Morgen, bekommen. Sie hatte das gute Stück einwandfrei identifiziert und so fanden Klein und seine Kollegen, sofort nachdem sie das Haus der Familie Benrath gestürmt hatten, die verwirrte Gattin neben der Leiche des verstümmelten Ehemannes.
Der Grund für das Ableben des Opfers war sozusagen schon postalisch festgestellt und der Täter bzw. die Täterin saß abholbereit neben dem Toten.
Ein gelöster Fall.
Und nachdem der Gerichtsmediziner wieder abgezogen war und ein Krankenwagen die verstörte Gattin in ein Leben unter pharmazeutischer Obhut abtransportiert hatte, schien alle Aufregung schnell wieder vergessen. Das Haus im Villenviertel der kleinen Stadt lag so ruhig da, wie es immer hätte sein können, gäbe es die menschlichen Leidenschaften nicht.
Kommissar Klein lehnte das Angebot seiner Kollegen von der Spurensicherung, ihn wieder mit in die Stadt zu nehmen, ab und wartete vor der Tür des Hauses, bis ihr Wagen um die Ecke verschwand. Dann machte er sich auf den Weg, um durch die Felder, die sich nackt und schwarz zwischen Außenbezirke und Innenstadt legten, zurück ins Präsidium zu gehen. Einen klaren, kalten Januarmorgen im Freien zog er immer noch der stickigen Luft seiner Amtsstube vor.
***
Irgendwann und immer wieder aufs neue hatte er sich vorgenommen, den Job zu schmeißen und sich ganz seiner Familie zu widmen. Aber obwohl er ein Mann im sogenannten 'besten Alter' war, sagte ihm die Erfahrung, dass die einzige Chance aus dem Polizeijob auszusteigen die war, im Lotto zu gewinnen oder einen Kiosk aufzumachen. Leider spielte er kein Lotto, was aber seiner Meinung nach die Chancen auf einen Gewinn nur wenig unmöglicher machte als im Falle, dass er gespielt hätte. Und er haßte Kioske. Sie waren der Anfang vom Ende eines Mannes, egal ob man sich im Segeltuchtrainingsanzug davor herumdrückte oder ob man dazu gezwungen war, sich mit den Schultern aus einem viel zu engen Fenster zu zwängen, wollte man einmal die Sonne sehen.
Da waren ihm abgeschnittene Penisse (sagte man wirklich Penisse? Er müßte einmal in dem Lexikon nachschauen, das seit Jahren unbenutzt in seinem Regal stand), also abgeschnittene Gliedmaßen doch noch lieber.
Das Bild seines leeren Hauses stieg vor seinem inneren Auge auf. Und dieses Bild sagte ihm, dass es zu spät dafür war, sich Gedanken über Familie, Lottogewinne oder eine Laufbahn als Kioskbesitzer zu machen. Er war ein Mann in den Vierzigern, ein Mann, dessen Frau mit dem Yogalehrer durchgebrannt war, dessen zwei Söhne im Ausland studierten, ein Mann, dem nur ein leeres Haus, ein ins Alter gekommener Hund, ein aus der Form geratener Körper und eine mittelmäßige Karriere geblieben war. Als Karin ihn vor einem halben Jahr verlassen hatte, hatte er erkannt, dass Klischees sein Leben bestimmten, dass er sogar vor sich selbst genau das Bild eines Mannes abgab, welches seine Frau zum Weglaufen gebracht hatte. Eines sarkastischen, emotional eingekapselten, an der Welt nicht interessierten Einzelgängers.
Nach Meinung seiner Frau befand er sich in einer Midlife-Crisis und es hatte sie wahnsinnig gemacht, dass er selbst es nicht einmal zu bemerken schien. Ein Umstand der seiner Meinung nach nur bewies, dass er eben nicht in einer Krise steckte, der ihrer Meinung nach aber nur zeigte, wie tief er in Wirklichkeit schon drin war. Aber mit dem Begriff 'Krise' verband er nun einmal Bilder von stürmischen Tagen, von Verzweiflung und heroischem Widerstand, von Alpträumen und Aufbrüchen ins Unbekannte.
Aber er wollte nicht ins Unbekannte, und er war nicht verzweifelt.
Im Gegenteil.
Er schlief tief und fest und erinnerte sich kaum einmal an einen Traum, und wenn, dann sagte ihm der Traum nichts. Und er wusste wirklich nicht, wogegen er hätte Widerstand leisten sollen. Im Gegenteil, auf eine seltsam lächerliche Weise hatte er begonnen, sich zufrieden zu fühlen und erst dieses Gefühl beunruhigte ihn etwas. Seine Frau fehlte ihm nicht. Seine Kinder fehlten ihm nicht. Es war ihm egal, ob er Karriere machte. Es war ihm egal, was die Kollegen dachten.
Er fühlte sich irgendwie reibungslos.
Aber zu seiner eigenen Verwunderung hatte diese Reibungslosigkeit, diese Festigkeit in seinen Gedanken und Gewohnheiten in den letzten Wochen begonnen, sich in eine Art Starre zu verwandeln. Ein Art Kältestarre aus der er in dem Maße zu erwachen begann, in dem er sich dessen bewußt wurde. Es wurde ihm langsam klar, dass er das Leben einer Amöbe führte.
In der klaren Januarluft sah Kommissar Hans Klein, einige Kilometer entfernt, die Silhouette der örtlichen Zementfabrik wie die Umrisse einer mittelalterlichen Burg in den Himmel ragen, und wenn er zur anderen Seite sah, konnte er Möwen erkennen, die über dem stillgelegten Steinbruch kreisten.
Jetzt hätte er gern Magog, den Familienhund, bei sich gehabt. Für ‘Stöckchen holen’ reichte es nicht mehr, aber etwas ins Laufen zu kommen, das hätte dem Tier gut getan. Sie hatten es lustig gefunden, damals, ihn nach einem der Höllenhunde aus dem Alten Testament zu nennen, aber mittlerweile war der arme Köter dem Himmel näher als sein Name es je hatte vermuten lassen und das einzig höllische an ihm waren die Gase die er ausströmte, wenn er etwas anderes zu fressen bekam als Trockenfutter.
Er erreichte die Innenstadt, und der Spaziergang hatte ihm jene innere Wärme verschafft, die er sich sonst nur noch durch ausgelassenen Kaffeegenuß verschaffen konnte. Sein Körper begann sich angenehm anzuspannen und ganz gegen die Gewohnheiten der letzten Zeit nahm er im Laufschritt, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe ins Präsidium.