Jonathan saß an seinem Schreibtisch, die Bruchstücke seines Romans lagen in einem wirren Haufen Papier neben seinem Laptop. Er dachte nach. Der Druck der letzten Wochen, die Sorge um die Kinder und die Angst vor dieser unheimlichen Krankheitswelle schrien nach Erklärungen, nach Sicherheiten, nach sinnvoller Deutung. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihr Erlebnis an dem Ritualplatz in den Hintergrund gedrängt, aber der Zustand des Jungen, den er eben gesehen hatte, brachte alles wieder in den Vordergrund. Ja, auf eine seltsam widersprüchliche Weise ließen sich die Ereignisse nun erst miteinander verknüpfen. Eine ansteckende Form der Epilepsie, die nur bei Kindern auftrat, ein fremder Flötenspieler der unerkannt im Wald hauste, zwei Kinder die sich an Voodoo-Spielen ergötzten, eine alte Frau, die in ihrer Küche einen schauerlichen Tanz tanzte, die seltsame Musik, die er immer wieder gehört hatte; das alles machte keinen Sinn, wenn er versuchte, die Gegebenheiten nach rationalen Gesichtspunkten so zu ordnen, daß er sich die ganze Geschichte in einem Atemzug hätte erzählen können. Das alles paßte nur zusammen, wenn er den dünnen Boden der Rationalität verließ und alles um diesen einen Begriff herum ordnete, der ihm vorhin angesichts des Jungen durch den Kopf gegangen war:
Besessenheit.
Er griff zu dem Haufen Bücher, der sich im Laufe der Zeit neben seinem Tisch angesammelt hatte, zog ein Lexikon der Psychologie heraus und schlug es auf.
„Besessenheit, in allen Kultur- u. Religionsformen vorkommende abnorme Phänomene des Erlebens und Verhaltens, die als gezielte Einflußnahme übernatürlicher personifizierter Kräfte (Geister, Dämonen, Teufel) gedeutet werden. Man unterscheidet eine nur äußere ‘Umsessenheit’ (circumsessio) von der eigentlichen inneren ‘Besessenheit’ (obsessio, possessio). Die auftretenden körperlichen u. psychischen Symptome lassen sich größtenteils psychopathologisch einordnen (Schizophrenie, Hysterie, Suggestion).
Schizophrenie, Hysterie, Suggestion. Was hatte er auch erwartet? Natürlich. Wahrscheinlich unterschätzte er den psychischen Druck, den das alles auf ihn ausübte. Wahrscheinlich brachte ihn erst das Verlangen nach einem sinnvollen Zusammenhang dazu, auch die abseitigsten Erklärungen zu akzeptieren. Aber wer war wirklich der Besessene? Er, der nach Antworten suchte und sich auf der Kippe zu übernatürlichen Erklärungen bewegte? Oder waren es vielleicht die Kinder, der Junge den er eben gesehen hatte und die alte Leubner, die ‘Besessene’ waren? Erlebte er hier den Beginn einer Gruppenpsychose, den Anfang des Abgleitens einer Gemeinschaft in eine kollektive Hysterie? Waren die Anzeichen psychotischen Verhaltens bei dem Jungen Reaktionen auf die Bedrohung durch diese verfluchte Krankheit? Oder war das tatsächlich nichts weiter als ein epileptischer Anfall gewesen und das, was er sich gerade versuchte zusammenzureimen, das war der Anfang einer Psychose? Hatte er seine Depressionen besiegt, nur um jetzt einer Psychose zu verfallen? Waren das denn eine Wahnvorstellungn gewesen, was er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers beobachtet hatte? Und versuchte er jetzt, diese Wahnvorstellung in einem System zusammenzufügen, das es ihm erlaubte, vor der Einsicht zu flüchten, daß er es war, der hier verrückt wurde?
Aber der Flötenspieler.
Der Flötenspieler war real, schließlich hatten die Kinder ihn gesehen. Er war keine Einbildung und also war auch die Musik keine Einbildung von ihm, auch wenn bisher nur er diese Musik gehört hatte, auch wenn Leon ihn ausgelacht und Yvonne ihm nicht geglaubt hatte.
Aber wer sagte ihm überhaupt, daß dieser Mann, den die Kinder gesehen hatten, sein geheimnisvoller Flötenspieler war? Wer sagte ihm, daß es sich nicht nur um einen harmlosen Spaziergänger handelte, der, aus welchen Gründen auch immer, einfach wieder gegangen war?
Er fühlte, daß das nicht sein konnte. Er fühlte, daß dieser Geheimnisvolle der Mittelpunkt dessen war, was sich hier abspielte. Und jetzt fiel ihm auch sein Traum wieder ein, in dem der Fremde aus dem dunklen Mittelpunkt der Ereignisse wie ein Leuchtturm aus tobender See ragte. Dieser Fremde war das Zentrum, um das herum sich alles drehte. Das fühlte Jonathan. Aber war das nicht gerade der Anfang der Irrationalität, war das nicht gerade die Suggestion, der er unterlag, der Anfang der Hysterie, der Besessenheit, daß er auf einen Traum vertraute?
Waren nicht die Träume die Abwesenheit der wachen Vernunft, der Realität?
An der Existenz oder Nicht-Existenz des Fremden entschied sich, ob er, Jonathan, der Verrückte war, oder ob er lediglich Zeuge ungewöhnlicher, irrationaler Ereignisse wurde.
***
Lisa sah ihren Vater mißtrauisch an. Sie verstand nicht, warum er so sehr darauf bestand, daß sie wieder und immer wieder darüber nachdenken mußte, ob ihr an dem Spaziergänger etwas ungewöhnliches aufgefallen war.
„Denk doch mal nach,„ sagte Jonathan, „konntest du wirklich nicht hören, was der Mann Heike gesagt hat?„
Lisa schüttelte den Kopf.
„Hast du es vielleicht nur wieder vergessen, weil ihr so erschrocken wart?„
Lisa schüttelte wieder mit dem Kopf und setzte dazu an, mit den Augen zu rollen, wie sie es immer tat, wenn sie Unverständnis und Verachtung signalisieren wollte über die Dummheit der Erwachsenen. Aber noch bevor sie Jonathan das Weiße in ihren Augen zeigen konnte, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie, daß ihre Haare um ihren Kopf flogen. Erschrocken blickte sie ihren Vater an und ebenso erschrocken wie sie ließ Jonathan sofort wieder los.
„Entschuldige, meine kleine Motte. Entschuldige, ich muß einfach wissen, wer dieser Mann war.„
Er schwieg einen Moment und versuchte das Gefühl seines Versagens herunter zu würgen. Noch nie hatte er eines seiner Kinder so behandelt. Was war nur in ihn gefahren?
„Weißt du, es kann vielleicht sein, daß dieser Mann weiß, wie man diese schreckliche Krankheit heilt an der euer Freund Paul gestorben ist. Vielleicht kann er ja auch den anderen Kindern helfen. Und wenn wir ihn finden, können die Ärzte bald wieder weggehen und es geht alles weiter, wie es war. Das willst du doch auch, oder?„
Lisa starrte ihn an. In ihrem Blick sah er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Sie war nicht mehr das kleine Kind, daß diesen plumpen Versuch der Manipulation nicht durchschaut hätte. Sie würde es ihm übel nehmen, wie er sie eben behandelt hatte. Aber genau so, wie er sich darüber gewundert hatte, warum er Yvonne abgehalten hatte, daß sie das Dorf verließen, wunderte er sich in einem der hintersten Winkel seines Bewußtseins jetzt darüber, daß er seine Tochter einem Verhör unterzog, nur um herauszufinden, ob dieser Spaziergänger mit dem Fremden identisch war, den er im Wald vermutete. Nur um einem Verdacht nachzugehen, der sich wahrscheinlich als Wahnidee entpuppen würde, spielte er grausame Spielchen mit seiner Tochter.
„Hat der Mann etwas dabei gehabt?„
Lisa sah ihn wieder an, eine Spur Verachtung in den Augen, aber sie verkniff es sich, ihn diese Verachtung allzu deutlich spüren zu lassen.
„Was denn?„
„Einen Gegenstand,„ Jonathan wollte nicht sagen was er meinte. Wenn Lisa ihm bestätigt hätte, was er ihr vorgab, dann hätte er keine letztendliche Sicherheit darüber gehabt, daß sie die Wahrheit sagte, „irgend etwas, was er in der Hand gehabt hat.„
„Nein,„ Lisa wurde die Sache langsam zu bunt. Sie wollte raus, mit Freunden spielen, die erzwungene Ausgangssperre die ihre Kontakte auf ihre Eltern und ihren kleinen Bruder beschränkte, zerrte an ihren Nerven, „in der Hand hat er nichts gehabt.„
Jonathan schluckte.
„Was soll das heißen, in der Hand hat er nichts gehabt?„
Lisa stöhnte und stapfte mit dem Fuß auf den Boden.
„Papa, das hab ich dir doch jetzt schon zwölf mal gesagt. Er hatte uns doch den Rücken zugedreht und so einen komischen langen Mantel hatte er an, da konnte man nicht dran vorbei gucken, wir haben hinter ihm...„
Jonathan mußte sich beherrschen, Lisa nicht wieder an den Schultern zu packen und zu schütteln. Diese Kinder konnten aber auch wirklich störrisch sein. Sie lebten in ihrer eigenen Welt und manchmal kam es ihm so vor, als könnte man nur mit Gewalt zu ihnen durchdringen um ihnen...
Er atmete tief ein und wieder aus. Aus dem unteren Bereich seines Körpers, aus der Gegend unter seinem Solarplexus, fühlte er ein Bild zu sich aufsteigen, ein Bild, ähnlich wie das, was er im Wald gesehen hatte, als Leon über seinen Fremden gelacht hatte.
Seinen Fremden.
Wie sich das anhörte.
Wer über seinen Fremden lachte, konnte nicht sein Freund sein.
Mit Gewalt drückte er das aufsteigende Bild wieder hinunter, bevor er sehen konnte, was es war. Er wollte es nicht sehen, dies hier war verdammt noch einmal seine Tochter, sein über alles geliebtes Kind, sein Mäuschen, da hatten solche Bilder nichts zu suchen.
Das Bild verschwand wieder in den Tiefen seines Bewußtseins wie die Hand eines Ertrinkenden im Moor, aber wie in einem Moor würde es erhalten bleiben, erhalten für spätere Zeiten, wenn die Erinnerung es wie ein unerbittlicher Archäologe wieder ans Tageslicht seiner Aufmerksamkeit zerren würde. Das wußte er. Für diesen Moment seines Lebens würde er noch bezahlen müssen.
Und als müßte er einen Teil der Strafe schon jetzt bezahlen, als könnte dieses Bild nicht verschwinden, ohne ihm jetzt schon zu sagen was es bedeutete, hörte er eine Melodie in seinem Hinterkopf, eine uralte Melodie aus Kindertagen, und helle Kinderstimmen sangen ein Lied zu dieser Melodie. Ein Lied, das er kannte.
Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel vollgemacht.
Er zuckte innerlich zusammen.
Woher kam dieser Fetzen eines alten Kinderliedes? War dieses Lied nicht Teil eines Spieles gewesen, das sie immer gespielt hatten? Eines Spieles in dem es darum ging, daß ein Fremder, immer reihum hatte ein anderes Kind die Rolle des Fremden zu übernehmen, daß also ein Fremder sich um die im Kreis stehende Gruppe herumschlich und diese bedrohte? Und hatte nicht dieser Fremde immer etwas in der Hand gehabt, etwas, was die anderen nicht sehen durften?
Dreh dich nicht um, der Plumpssack, der geht um.
Genau.
Wer sich umdreht oder lacht, kriegt...
Das war es. Er erinnerte sich noch wie heute, wie spannend, wie unheimlich und faszinierend es gewesen war, in diesem Kreis zu stehen und sich an den Händen zu halten. Zu spüren, wie eines der Kinder, das fremde Kind, um einen herumschlich und einen jederzeit von hinten berühren konnte. Dann mußte man sich blitzschnell umdrehen und das Kind im Kreis um die Gruppe herum jagen und die anderen Kinder schrien vor Spannung und Begeisterung und wenn man nicht schnell genug war, und das Kind nach einer festgesetzten Anzahl von Runden nicht fing, dann mußte man selbst der Fremde sein, der Ausgestoßene, der Außenseiter, der, der nicht in den inneren Kreis durfte.
...den Buckel vollgemacht.
Es war nur ein Moment vergangen und die Melodie verschwand in seinem Kopf wie die Musik in einem Radio, bei dem die Batterien alle waren.
Sie verschwand in einem Rauschen und war dann plötzlich weg.
„Vielleicht so eine komische Pfeife,„ sagte Lisa.
„Was?„
Er hatte nicht verstanden.
„So eine Pfeife oder Flöte. Ich konnte nur das Mundstück sehen, in seiner Manteltasche.„
Jonathan sah sie ungläubig an.
„Die Manteltasche ging auseinander als er sich bückte, und da konnte ich kurz hinein sehen.„
Sie machte eine Pause und sah ihren Vater nachdenklich an.
„Ich glaube, das war so eine Flöte wie man sie immer auf dem Flohmarkt kaufen kann. So eine billige goldene, mit einem rotem Mundstück aus Plastik.„
***
Es gab ihn also wirklich. Er war nicht verrückt. Es gab den Flötenspieler und die Kinder hatten ihn gesehen. Er war aus dem Wald gekommen und hatte sich ihnen gezeigt.
Jonathan war wie elektrisiert. Er merkte kaum, wie Lisa wegging. Mit einem seltsamen Gefühl der Rührung dachte er an den Fremden. Er war dankbar für dessen Existenz. Er war dankbar dafür, daß es ihn wirklich gab und daß es nicht bloß ein Hirngespinst war, daß er diese Musik gehört hatte. ER hatte eine Flöte dabei gehabt. Der Mann war nicht nur ein Produkt seiner Träume. Es gab Zeugen. Der Mann existierte und das bedeutete...
Das bedeutete, daß man ihn finden konnte.
Das bedeutete aber auch, daß ihn die Anderen hätten hören müssen.
Wenn dieser Mann nicht das Produkt seiner individuellen Phantasie war, warum war er dann anscheinend der Erste, der ihn gehört hatte? Warum hatte nicht einmal der alte Leubner ihn jemals gehört? Warum hatte Leon ihn nicht gehört als sie im Wald waren? Und Leon hatte unmöglich so weit weg gestanden, daß er sie nicht ebenso hätte hören müssen.
Jetzt wußte er zumindest, daß der fremde Helfer, den die Kinder gesehen hatten, mit dem Flötenspieler identisch war, den er gehört hatte. Das war genug, um Leon zu überzeugen, und wenn er seinen Freund überzeugen konnte, dann könnten sie sich auf den Weg machen, um diesen Mann zu suchen und dem Spuk ein Ende machen. Denn das dieser Fremde Ursache und Ausgangspunkt für alles war, was sie hier erlebten, darüber gab es für Jonathan keinen Zweifel mehr.