Literaturkombinat Dortmund
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Kapitel 2: Mastemas Hunde

Wessel Kipp versuchte es. Er schwitzte trotz der Kälte, bemerkte nicht einmal den Wind, der durch die ungenügend abgedichteten Fensterlöcher fuhr und eisige Fäden durch den nur spärlich durch einen Kamin in der Ecke beheizten Raum zog. Trotz des Tageslichtes, das von draußen hereinfiel, herrschte winterliches Halbdunkel..

Auf dem Tisch vor ihm drängten sich Phiolen, Flaschen, Beutel mit Substanzen deren Wirkung ihm selber teilweise unbekannt waren, Bücher und vergilbte Papierrollen, Horoskope und astronomische Berechnungen. Da fand sich das siebenbändige Anatomiebuch des Andreas Vesalius in einer neuen Übertragung, mit goldenen Lettern war die Jahreszahl 1582 in den Buchdeckel gedruckt, neben den Kopien der Astrologiebücher von al Kindi, Jabir ibn Hayyan und Abu Ma’shar und weiteren bedeutenden und unbedeutenden Werken der Alchimie. Aber in keinem der gelehrten Bücher hatte er etwas über den Umgang mit diesen Substanzen gefunden.

Er wischte sich die kräftigen Hände an seinem Kittel ab, steckte einen weiteren Kienspan in den Halter an der Wand hinter ihm und zündete ihn an, dann griff er erneut zu den beiden kleinen Flakons, von deren Inhalt er nun zu gleichen Teilen etwas in einer flachen Schale zusammengoß.

Seine Mundwinkel zuckten nervös. Er trat einen Schritt zurück, um sich dann aber sofort wieder über die kupferne Schale zu beugen.

Von draußen drang gedämpft das Geräusch kläffender Hunde herein.

Alles mögliche hatte er schon probiert, alle ihm bekannten Kombinationen mit anderen Substanzen versucht, aber umsonst.

Er hätte irgendeine Reaktion erwartet. Wenigstens eine Entwicklung von Qualm, eine Stichflamme, eine besondere Farbe, die sich aus den beiden Flüssigkeiten ergeben hätte, aber nichts davon trat ein. Das wäßrige Element ruhte in der Schale, durch nichts eine Wirksamkeit offenbarend.

Und es hatte solche Mühe gekostet, an die Phiolen heranzukommen. Er war mehrere Tagesreisen weit bis ins ferne Köln gereist um in den dortigen Kärchnergassen die Läden maurischer Einwanderer nach neuen, unbekannten Substanzen, die diese aus ihren Gegenden ins ferne Köln mitgebracht hatten, zu durchsuchen. Hier, an seinem Heimatort, war er weitgehend auf die vorkommenden Kräuter und Mineralien angewiesen. Von den Versuchen der arabischen Alchimisten wusste er einiges durch seine Bücher, jetzt hatte er endlich einmal einige der dort beschriebenen Substanzen selber mischen wollen.

Er nagte nervös an den Knöcheln seines rechten Zeigefingers und machte sich Notizen auf einem Stück Pergament.

Über die Tinkturen, die er schließlich erstanden hatte, hatte er noch nirgends etwas lesen können, und wenn er zu sich selber ehrlich war, hatte er sie auch nur deswegen gekauft. Der geheimnisvolle Glanz der kleinen Flaschen hatte ihn gereizt, und die Aussicht, vielleicht etwas ganz neues zu entdecken, hatte den Ausschlag gegeben. Er war ein Anfänger der Alchimie, und er wusste genau, dass nur jahrelanges Suchen zu neuen Ergebnissen führte. Aber die Neugier war stärker gewesen.

Wahrscheinlich verriet diese neue Substanz ihre besondere Wirkung erst, wenn sie jemandem verabreicht würde, überlegte er.

Und plötzlich kam ihm eine Idee. Hatte er nicht eben Hunde bellen hören? Er könnte doch seine Tinktur an einem dieser Köter ausprobieren, war sie tödlich, nun gut, niemand würde das Tier vermissen, war sie es aber nicht, so konnte er selbst etwas nehmen. Was dem Tier nicht schadete, konnte ihm auch wenig anhaben.

Er beschloß, sofort ans Werk zu gehen.

Aus der Räucherkammer nahm er einen ordentlichen Batzen Fleisch, dann verdünnte er einige Tropfen seiner neu gewonnenen Tinktur mit Wasser und strich die Lösung mit einem Spatel auf das Fleisch, dann warf er sich einen groben Umhang über, verstaute das Fleisch welches er noch in ein Tuch eingewickelt hatte, in seiner Leinentasche, steckte sich ein Messer in den Gürtel und stapfte hinaus in den Januarschnee.

Jetzt musste er nur noch den Hund zu fassen bekommen.

Draußen lauschte er nach links und rechts. Nichts war zu hören, der Schnee schluckte alle Geräusche die sonst vom Marktplatz herüber wehten. Die scharfe, klare Luft tat ihm gut nach seiner verqualmten Stube, Tatendrang stieg in ihm hoch. Er wandte sich nach links und ging in Richtung Markt. So ein Köter würde sicher früher oder später versuchen, Reste von den Marktständen zu ergattern, auch wenn er eine satte Tracht Prügel einzustecken riskierte. Hunger läßt übertriebene Vorsicht schnell zu einem lebensbedrohenden Hemmnis werden, das galt für Mensch und Tier gleichermaßen.

Die Straßen waren nicht gepflastert, das gab es nur in den großen Städten, und in einigen Wochen, wenn es taute, würde alles in Schlamm schwimmen, aber jetzt gab die Schneedecke ihm festen Tritt.

Munter werdend stapfte er Richtung Markt, pfiff sogar etwas vor sich hin.

***

Er erreichte den Marktplatz. Buntes Volk mischte sich hier trotz der Kälte an den Ständen, um Fleisch für die leerer werdenden Vorratskammern und Kleidung gegen den langen Winter zu erstehen. Der gesamte Platz war übersät mit Buden und provisorischen Zelten, dazwischen Kisten aneinandergereiht, in denen hauptsächlich Rüben, Hirse und Hafer aus den Wintervorräten der Bauern angeboten wurden. Die Stände der Gewandschneider, Weber und Walker, Tuchscherer und Färber zeugten vom aufstrebenden Handel in der Stadt. Da gab es alles, was das eitle Herz begehrte, leichtes Zeug von feiner Wolle aus Brügge, Scharlachprodukte aus Gent und feine Laken aus Ypern.

Wessel schlenderte durch die Menge und genoß das Geplapper der Frauen, das Gejuchze der Kinder, die um ein Stück Wurst bettelten und das Schimpfen der Männer, die die viel zu hohen Preise beklagten. Er kam zu selten aus seinem Haus heraus und unter Menschen.

Für eine Weile vergaß er, warum er hergekommen war und ließ sich treiben.

Dann sah er einen streunenden Hund am Rande des Platzes vorsichtig auf eine Gelegenheit lauern, etwas Eßbares zu ergattern. Wessel ging auf das Tier zu. Es war von mittlerer Größe, dürr, hatte ein dunkles, glattes Fell und einen schuppigen Ausschlag auf der Schnauze. Als er einige Schritte an das Tier herangekommen war, bemerkte es ihn, erhob sich aus seiner kauernden Position und trabte weg. Aber in einiger Entfernung lagerte es sich wieder in den harten, von unzähligen Füßen zertrampelten Schnee.

Wessel näherte sich ihm erneut und das Spiel wiederholte sich.

Der Hund stand auf und trabte um einiges weiter um sich dann wieder hinzulegen. Wessel nahm das Tuch mit dem Fleisch aus der Tasche und hielt es, leicht gebückt vorwärtsgehend, vor sich hin, als er plötzlich den mißtrauischen Blick eines Bauern erntete, der das Treiben hinter seinem Stand mit Mißfallen bemerkt hatte. Sofort wurde ihm klar, dass er nur Verdacht erregen konnte wenn man gewahr wurde, dass er hier herumstrich und streunende Hunde mit wertvollem Fleisch fütterte. Womöglich würde man, aufmerksam auf sein ungebührliches Verhalten geworden, das Fleisch untersuchen und ihn befragen, was es mit dem seltsamen Anstrich auf sich habe.

Wessel erhob sich wieder aus der Hocke, streckte sich wie ein müde gewordener Mann und steckte nebenbei das Tuch mit dem Fleisch in die Tasche zurück. Dann wandte er sich auf dem Absatz um und ging weg von dem Hund.

Er musste warten, sich in Geduld üben bis der Markt vorbei war und dem Hund folgen bis er ihn allein erwischen konnte. Er war sich sicher, dass das Tier den Platz nicht verlassen würde, bis der letzte Stand mit Fleisch nicht abgebaut war.

Während er nun wartend zwischen den Ständen umherstrich, erinnerte er sich, wie er einmal, ähnlich enttäuscht durch seine fruchtlosen Forschungen wie heute und um Luft in seine Gedanken zu bringen und der erdrückenden Enge seiner Studierstube zu entrinnen, die Stadt verlassen hatte um über das Land zu streifen. All seine alchimistischen Künste führten zu nichts. Tage- und wochenlang konnte er die Metalle trennen und neu zusammenfügen, er konnte härtere und weichere Verbindungen schaffen, Flüssiges verfestigen und Festes flüssig machen. Vielleicht, so dachte er damals, würde es ihm sogar gelingen, ganz wie er es am Anfang so gewollt hatte, Gold zu machen. Dann hätte er reich und berühmt werden können und Fürsten und Könige hätten sich von ihm einen Nasenring anlegen und an ihm herumführen lassen. Aber je mehr er sich mit Alchimie beschäftigt hatte, desto weniger reizte ihn diese Vorstellung wirklich. Führte das Gold die Menschen nicht ins Verderben, machte es sie nicht in Wirklicht blind für die Schönheit Gottes und ließ es sie nicht alles verachten, was nicht in Gold gewogen werden konnte? Warum aber durchfuhr die Menschen dann doch eine Ahnung der Herrlichkeit Gottes, wenn sie des Goldes ansichtig wurden und warum waren sie andererseits so schnell bereit, für Gold all diese Herrlichkeit aufzugeben? Lag die Herrlichkeit selbst im Gold oder war dies nur eine Täuschung? Irrten sich vielleicht die Alten, wenn sie dem Suchenden empfahlen, die Alchimie zu studieren um etwas über die Unsterblichkeit der Seele zu erfahren?

So war er damals, von Zweifeln getrieben, aus der Stadt hinaus und über die Felder des Umlandes gezogen. Dunkle Wolken waren währenddessen, unbemerkt von dem sinnenden Mann, über ihm zusammengezogen. Als es dann begonnen hatte zu regnen, hatte er endlich nach oben geblickt. Erst waren nur kleinere Schauer dünner Fäden über das Feld gezogen, dann fielen immer dickere Tropfen auf die Erde. Wessel hatte seinen Umhang enger um die Schultern geschnürt. Tropfen klatschten auf seinen Kopf, Wasser rann ihm bald in Kragen und Stiefel. Eine Wand von Regen verdunkelte den Nachmittag zur Nacht. Er stapfte über das matschige Feld, schwere, nasse Erde hing an seinen Füßen und machte das Gehen immer schwieriger.

Dann war der Sturzbach plötzlich abgebrochen.

Wessel hatte nach oben geblickt. Etwa dreißig Fuß über ihm, mitten in der Luft, unterbrachen die Tropfen wie von Zauberhand ihren Fall. Sie blieben einfach dort oben hängen und liefen zu Rinnsalen und Bächen zusammen und bildeten langsam eine immer dicker werdende Eisdecke über seinem Kopf. Wessel hatte nach oben gestarrt. Er konnte nicht glauben, was er sah. Von Horizont zu Horizont schien es, als habe der Himmel sein Dach tiefer auf die Erde gesenkt und mit Glas überzogen. Deutlich hatte er erkennen können, wie der Regen nun auf die immer dicker werdende Eisdecke über ihm fiel. Durch das Eis hindurch sah er, dass sich die Regenwolken nun langsam zurückzogen und eine fahle Sonne zum Vorschein kommen ließen.

Und plötzlich war die Luft von einem entsetzlich lautem Knirschen erfüllt gewesen. Wessel hatte sich die Ohren zugehalten und das Knirschen wurde zu einem Ächzen und Kreischen in seinem Kopf. Risse jagten durch die eben noch makellose Eisfläche über ihm. Wie Schlangen im Gras schossen sie nach allen Seiten durch das Eis und verwandelten es in einen Teppich aus funkelnden Diamanten, die die Sonne tausendfach spiegelten. Unter einem ungeheuren Gewicht drohte die Eisdecke zu brechen.

Und dann hatte sich das Heer der Horla über ihm gezeigt.

Angeführt wurde die Schar von den Gehängten und Geköpften, den gemordeten Übeltätern, die den Fängen der Gerichtsbarkeit erlegen waren. Die Gehängten schwangen die Enden der Seile an denen sie gehangen hatten zu einem sirrenden Konzert und die Geköpften schlugen mit ihren Schädeln die Trommeln dazu. Ihnen folgten die in der Schlacht Gefallenen. Ihre Waffen blinkten und blitzten und ihre Gesänge ließen die Luft zittern. Auf Katzen und Ziegen reitend kamen, in weiße Tücher gehüllt, die ungetauften toten Kinder, gefolgt von den Krüppeln und Narren. Schellenglocken und Krücken mischten sich in ohrenbetäubendem Klopfen und Klingeln zu einem Willkommen für die Große Göttin.

Sie kam auf ihrem Thronwagen in der Mitte des Zuges. Zwerge und bocksbeinige Faune trugen den mächtigen Thron, aus uraltem Baum und Knochen gewirkt, hoch. Nackt hockte dort die Göttin, die Herrin der Tiere und des Waldes, die Anführerin der Totenschar, übermenschengroß und mit zwei Hörnern aus glänzendem Elfenbein, die sich weit ab von ihrem Kopf in den Himmel bogen. Ihre Brüste waren groß und weiß und Milch tropfte von ihnen hinab und floß großzügig den Thron hinunter auf das Eis. Ihr Gesicht glänzte in Güte und Wildheit, Milde und Zorn zugleich. Den Thron bewachten Luchse und Wölfe, Ochsen und Bären. Das Eis knirschte und brach unter ihrem Gewicht. Einzelne Brocken regneten herunter und hatten Wessel ins Gesicht getroffen.

Aber er hatte es nicht gespürt.

Gebannt hatte er nach oben gestarrt, hoch zu der Schar, die sich langsam in der Ferne dort oben verlor, dann war er in eine selige Ohnmacht gefallen.

Das war seine Berufung gewesen und seit damals hatten seine Forschungen eine andere Richtung erhalten. Seit damals suchte er kein Gold mehr zu machen, sondern er suchte seine Seele zu verwandeln, um der Herrin würdig zu sein.