"Die Hütchenspieler - ein antiesoterischer Entwicklungsroman" (Auszug)
Sein erstes erotisches Abenteuer hat Paul mit elf oder zwölf Jahren - so genau lässt sich das nicht mehr eingrenzen. Die Sonne scheint. Es ist Sommer. Er weiß noch lange nicht, was man mit dem Dingelchen zwischen seinen Beinen alles anstellen kann. Im Haus gegenüber wohnen zwei süße Mädchen in seinem Alter, Zwillinge, mit blonden Haaren und (so stellt er es sich damals vor) zarten Brüsten unter duftenden Kleidern. Versuchungen für einen Jungen, der erst langsam zu ahnen beginnt, was Versuchung eigentlich ist. Er spielt mit den beiden Verstecken und tobt mit ihnen durch den Garten und eines Tages kommen sie auf dem Weg in die Küche am Klo vorbei, das sich unten im Erdgeschoss seines Heimathauses befindet. Paul weiß nicht mehr, wer von ihnen auf die Idee gekommen ist - die Zwillinge oder er - auf jeden Fall gehen sie zusammen hinein, er setzt sich auf den heruntergelassenen Klodeckel, während die beiden Mädchen vor ihm stehen und sich von ihm anfassen lassen. Und irgendwann hat er eine von ihnen quer über seinen Beinen liegen und schiebt ihr den Rock hoch, während die andere vor den beiden steht und ihnen zusieht. Langsam zieht er ihr das Höschen, das sie trägt, herunter, schaut sich ihren zarten Po an, streichelt und schlägt ihn spielerisch und erzählt irgendetwas Ausgedachtes, was sie angestellt haben könnte. Er weiß nicht mehr, wie lange dieses Spiel dauerte, erinnert sich nur noch an den Kloß in seinem Hals, der sich nicht auflösen will unter seinem Sprechen über ihre Schandtaten, die seine Lust rechtfertigen. Während sich die eine Zwillingsschwester die Behandlung gern gefallen lässt, schaut die andere weiter neugierig und schweigend zu, was Pauls Vergnügen nur erhöht. Abrupt beendet wird ihr Spiel schließlich von der Mutter, die plötzlich in der Tür erscheint und nur mühsam ihr Entsetzen über die Szene verbergen kann.
Im zarten Alter von vierzehn erfährt Paul, dass er in revolutionären Zeiten lebt. Der Enge der Straße, in der er aufwächst, steht die Welt einer gewaltigen Umwälzung gegenüber. Karl May wird durch Karl Marx verdrängt. An der Schule – Paul hat sich als fähig erwiesen, das Gymnasium zu besuchen - verteilen die älteren Schüler Flugblätter, die den Zusammenhang zwischen Vietnam und der kleinen Welt zuhause erklären. Sie schärfen Pauls Sinn dafür, dass der Aufstand gegen die Eltern und Lehrer fast genauso wichtig ist, wie mit der Machete in Bolivien Schneisen in den Dschungel zu schlagen, um gegen den internationalen Imperialismus zu kämpfen. Man zettelt Schulstreiks an, raucht auf dem Schulhof und kassiert die dafür vorgesehenen Tadel mit stoischer Gelassenheit. Pauls Noten werden immer schlechter, aber das macht ihm nichts. Zum Ausgleich lässt er sich die Haare wachsen. Der Vater hat sich, angeekelt von den Auswüchsen der Emanzipationsbewegung, die bis in die gepflegten Vorgärten ihrer Straße vorgedrungen ist, von der Mutter ab einer jüngeren Frau zugewendet. Aus Rache unterstützt die Mutter Pauls Rebellion. Ihr liegt etwas daran, dass er sich politisch betätigt. Die Politik, so ihr Plan, wird ihn vom Vater entfernen. Später dann soll er Jura studieren, um Anwalt zu werden. Vorzüglich Scheidungsanwalt.
Paul tritt in eine politische Jugendgruppe ein, die ihn zum ersten Mal die Wärme einer geschlossenen Gesellschaft erfahren lässt, mit all ihren Verlockungen zu einfachen Lösungen, zu freundschaftlicher Verbundenheit qua Ideologie, aber auch mit allen Schwierigkeiten, die durch die Fluchtlinien der Liebe entstehen. Hier lernt er Nicole kennen. Sie ist süß, rund und schön, mit Zöpfen und einem strahlenden, warmen Gesicht, einer runden Brille auf der Nase und mit großen Brüsten. Sie schläft im Laufe der nächsten Jahre mit einigen der Jungs aus ihrer Clique - nur nicht mit Paul. Er ist dazu da, ihr die Welt zu erklären, wie er es sich aus seinen Büchern zusammengelesen hat. Er steht im siebten Stock auf dem Balkon ihrer elterlichen Wohnung, sie sitzt vor ihm in einem Liegestuhl, in der Ferne fahren Züge in die große, weite Welt, von denen sie ihm einmal erzählt, dass sie Schokolade aus einer nahe gelegenen Fabrik transportieren. Er wusste das nicht, aber die Welt ist sowieso voll Schokolade, solange er in das strahlende Gesicht von Nicole sehen kann. Er geht auf und ab und redet sich in Wallung über die kommende Revolution, über die Keimzelle des Künftigen, die sie beide bilden können. Er träumt von revolutionärer Liebe, vom gemeinsamen Kampf für eine bessere Welt, vom Siegen und Ausruhen und merkt selbst nicht einmal mehr, dass es ihm nur darum geht, ihren süßen Körper berühren zu dürfen, den er nicht berührt, den er redend umkreist, beschwört, verzaubert, abtastet mit seinen Worten. Seine unerfüllte Liebe zu Nicole dauert fast seine ganze Jugend an und wie es mit der ersten großen Liebe so ist, ist später immer noch etwas davon in ihm. Er sieht sie ein paar Jahre lang fast täglich, begleitet sie als Unbeteiligter durch einige ihrer Beziehungen, hört sich selber darüber reden, warum sie es mit dem einen oder anderen doch noch einmal versuchen soll und hofft im Stillen, dass sie seine Liebe erkennen und zu ihm kommen wird. Er ist ein Theoretiker der Liebe. Aber einmal, ein einziges, beschämend schönes mal gelingt es ihm, Nicoles schlechtes Gewissen ihm gegenüber auszunutzen und sie mit all seiner Kunst zu einer ausgedehnten Stunde Petting zu überreden. Und wäre im richtigen - oder falschen - Moment ihr Vater nicht in der Tür erschienen um seine Tochter zum Essen zu holen, so hätte er wohl an diesem Tag das erste Mal mit einem Mädchen geschlafen.
Und er hat Sex. Zu seinem Leidwesen aber nicht mit den Frauen, mit denen er wirklich gern hätte, sondern leider nur mit denen, die gern mit ihm haben. Da gibt es Kathi, mit der Stimme einer Kreissäge, aber zwei annehmbar großen Brüsten, die er streicheln und küssen kann, wann immer er will. Kathi hat einen festen Freund, aber das macht ihr nichts. Sie haben ein unausgesprochenes Abkommen. Wann immer sie Zeit hat, kann er in ihrem Zimmer unter dem Dach ihres Elternhauses vorbeikommen und sie betatschen. Nur die Hose behält sie an. Sie fummeln und reden nicht. Eigentlich mag er sie nicht besonders, aber sie ist gut zu ihm und deshalb kommt er immer wieder. Und da ist Undine, die offizielle Cliquen-Schlampe, die es mit jedem treibt. Undine hat lange dunkle Haare, kifft, treibt sich nachts in Discos herum und ist die neue Freundin von Ingo, der sich von Heike getrennt hat, die jetzt mit Georg geht, der sich von Marlies getrennt hat. Undine ist verdorben. Bei einer Freundin lässt sie endlich auch Paul an sich ran. Sie sitzt lässig auf einer Matratze, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und er liegt in ihren Armen, hat ihr den Pulli hochgeschoben und saugt an ihren Brüsten, während sie eine Zigarette nach der anderen raucht. Ihre Coolness lässt ihn verzweifeln, beschämt ihn darüber, was er tut, aber er mag nicht aufhören, zu verführerisch der warme Körper, den er dann doch endlich in die Horizontale bekommt, er obenauf, Undine immer noch rauchend, rauchend, rauchend. Sie lässt ihn einfach machen, unbeteiligt, nur manchmal unterbricht sie ihn, um nach einer neuen Zigarette zu greifen. Er liegt auf ihr, die Hose noch an, küsst und drückt sie und schubbelt seinen Unterleib auf ihrem bis er endlich in seine Hose spritzt. Undine raucht sich noch eine und dieses Mal raucht Paul mit. Die erste Zigarette danach.
Und natürlich Silke, die sich gern ihre Titten mit Fingerfarben bemalt und sie jedem zeigt, der sie sehen oder nicht sehen will. Er schreibt ihr Liebesbriefe, sie schreibt ihm zurück. Er schreibt auf allem, was ihm in die Finger gerät: Bierdeckel, Brotpapier, Postkarten, die Rückseiten von Flugblättern. Immer wenn ihn eine Intuition überkommt, greift er zum Stift und schreibt es auf. Silke hat schon einen ganzen Schuhkarton bis oben hin voll mit Briefen von ihm. Ran lässt sie ihn trotzdem nicht. Sie steht auf richtige Männer, die es ihr schon ordentlich besorgen können. Und ein Auto haben. Paul hat sie als Unterhalter eingestellt, der es ihr mental gibt. Sein Muster beginnt, zu greifen. Paul spezialisiert sich aufs Frauenflüstern. Er öffnet seine poetische Seele für die Frauen. Bei einer Party, er ist sturzbetrunken, rettet er sich vor seinem inneren Elend hinaus auf eine Parkbank. Drei oder vier Frauen folgen ihm und lauschen, neben ihm und zu seinen Füßen sitzend, seinen poetisch-tränenerstickten Ergüssen. Es fließt einfach aus ihm heraus. Wortkaskaden, zu spontanen Gedichten gedrängt, Geständnisse aus den Tiefen seiner Nacht, Tränen wie Diamanten, versehen mit den Spiegelungen einer gebrochenen Welt. Er spürt, dass diese Wesen zu seinen Füßen ihn annähernd verehren, ihn lieben, aber sie trauen sich nicht an ihn heran. Er fängt an, zu begreifen, dass sie genau so feige sind wie er, nur anders herum. Sie haben Angst davor, ihre Seelen zu verlieren. Er frisst sie auf, saugt ihr Innerstes auf und öffnet sie wie Austern, um sie zu schlürfen. Es ist wie Sex - nur ohne Sex.
Dann lernt er Annegritt kennen, Aktivistin des Arbeiterkampfes aus Hamburg und so wenig eine Arbeiterin wie sie alle es sind. Annegritt gehört zum Flügel der Spontis, während er sich bei den Trotzkisten wohler fühlt. Sie lesen zweimal die Woche das Kapital von Karl Marx, malen Plakate, kämpfen gegen den Paragraphen 218 und die Atomenergie und sind geteilter Meinung über die terroristischen Aktivitäten ihrer radikaleren Glaubensgenossen. Mit seinen insgesamt drei Trotzkistischen Kollegen in der Stadt infiltriert Paul alles an Bürgerinitiativen was die an Initiativen reiche Szene zu bieten hat. Annegritt und er diskutieren gern und viel, streiten über den richtigen Kurs für den Zweifellsohne nahenden Sozialismus und er fährt mit ihr nach Hamburg zu einem Kongress. Eine neue Bewegung, die aus Bürgerinitiativen eine Partei schmieden soll, ist im Aufbau. Annegritt ist die erste Frau, die seinen Schwanz in den Mund nimmt. Er steht vor ihr in einem halb dunklen Zimmer, sie hat seine Hose herunter gezogen, kniet mit entblößten Brüsten vor ihm und lutscht an seinem schlaffen Ding. Lutscht und küsst. Aber er wird einfach nicht steif, weil Paul voll ist von Panik, Unwissenheit und Gefühllosigkeit. Er sitzt in seinem Kopf und beobachtet.
Eines Morgens macht er sich mit Annegritt und einer Gruppe Gleichgesinnter auf in ein Dorf auf der holländischen Seite der Grenze. Noch im Dunkeln geht es zum Bahnhof. Überall sind Polizisten mit Hunden. Es ist mitten im Deutschen Herbst. Sie steigen in die bereitgestellten Busse und düsen los. Die ganze Zeit über werden sie von Motorradfahrern überholt und angehalten, die ihnen auf kleinen Zetteln immer neue Codes in den Bus hinein reichen, damit die Polizei den Sprechfunk der Karawane nicht stören kann. Das Adrenalin pumpt durch seine Adern, aber die Genossen sind ja mit revolutionärem Liedgut und großen Reden dabei. Beim nächsten Stopp steigt ein stadtbekannter Aktivist in den Bus ein, zeigt auf Paul und ernennt ihn kurzerhand zum "Busführer". Paul geht nach vorn, setzt sich neben den Fahrer und übernimmt den Sprechfunk mit den Motorradfahrern, die sie an Polizeisperren vorbei zu ihrem Ziel geleiten. Kurz davor ist es dann erst einmal vorbei. Die Polizei hat die Stadt weiträumig abgesperrt. Sie müssen zu Fuß weiter. Vor und hinter ihnen stehen Dutzende von weiteren Bussen, links und rechts erstrecken sich die Wiesen der ansässigen Bauern. Sie stehen vor den Bussen, atmen die feuchte Luft dampfender Wiesen ein, hunderte von Demonstranten, und alle etwas ratlos, wann es wohin weiter gehen soll und wer hier die Kommandos gibt. Plötzlich wird die Luft vom Lärm nahender Rotoren erfüllt. Große Mannschaftshubschrauber des Bundesgrenzschutzes kreisen über ihnen, kommen bedrohlich weit hinab, malen wilde Kreisel in das frische Gras und wehen ihnen die Palästinenser-Tücher um die Ohren. Es kommt Unruhe im Zug auf. Die großen Schlachten der Anti-Atom-Bewegung liegen erst kurz hinter ihnen. Paul und Annegritt haben die Bilder gesehen. Die Hubschrauber gehen auf der Wiese hinunter, eine Hundertschaft von Schilden und Knüppeln steigt aus, die Rotoren schweigen, die Polizisten stehen in einer Reihe gebannt in etwa hundert Meter Entfernung. Alle in schwarzer Uniform und mit schwarzen Helmen auf dem Kopf. Zu hören ist im Trupp der Demonstranten nur noch geflüsterte Unruhe, ratloses Treten auf der Stelle. Soll man wieder in die Busse steigen? Den Bullen mutig und geschlossen entgegen gehen? Die meisten sind auf einen so frühen Angriff, fern von der erwarteten Masse der übrigen Demonstranten, nicht vorbereitet, die, die es sind, in der Minderzahl. Sie stehen da wie die Kaninchen, die auf das Beil des Metzgers warten. Die Polizisten vor ihnen wie schwarze Ritter, nur, dass es keine Ritter sind, sondern der Feind. Plötzlich, durch ein unhörbares Kommando vereint, fangen sie an, mit den Knüppeln auf ihre Schilde zu schlagen. Eine Wand aus dumpfen Schlägen, die das Unvermeidliche ankündigen. Sie werden eine Menge Prügel einstecken müssen und ein ganz klein wenig Prügel austeilen können. Mehr ist in diesem Krieg, der im Gegensatz zu dem, was in anderen Ländern zu gleicher Zeit passiert, nur ein etwas aufgeregter Friede ist, nicht drin. Etwa drei oder vier Minuten lang ist nur das Donnern der Schlagstöcke auf den Schilden zu hören, dann stürmen die Ritter plötzlich los, rennen über die Wiese auf sie zu und endlich, endlich schreit jemand aus der Reihe der Demonstranten ein Kommando und tatsächlich ist es Paul, der schreit. Ermutigt durch die Ehre, den Busführer abzugeben, hat er für einen Moment seine Kaninchenmentalität abgelegt und ist zum Adler mutiert. "Hinter die Busse", schreit er, "Hinter die Busse." Und er fängt an, Hand in Hand mit Annegritt, an den Reihen der Ratlosen hin und her zu laufen, um das Kommando zu verbreiten. Es gibt nur eine Möglichkeit: den Ansturm durch die gewaltigen Mauern der Busse brechen und hoffen, dass man eine bessere Chance hat, wenn die geschlossene Reihe der Angreifer aufgespalten wird. Karl May trifft auf Karl Marx. Old Shatterhand rettet die hilflosen Wagenburg-Bewohner.
Und Pauls Ruf wird aufgenommen. "Hinter die Busse. Hinter die Busse", klingt es auf einmal von überall her und sie drängen sich zwischen den Wagen durch, sammeln sich dahinter und warten. Paul steht zwischen zwei Bussen und sieht sie auf sich zu kommen. Aber ebenso plötzlich, wie sie losgestürmt sind, bleibt die Reihe der Angreifer stehen, gefriert zu einer undurchdringlichen Mauer. Die Staatsgewalt hat nur gedroht, gezeigt, wozu man fähig wäre, wenn...
Einige Minuten später sitzen die Ritter wieder in ihren fliegenden Drachen und sie in ihren Bussen und kaum eine Stunde später fahren sie in das kleine Dorf ein, deren Bewohner sich vor den anreisenden Terroristen dadurch zu schützen suchen, dass sie ihre Fenster mit Brettern verrammelt haben. Nicht einmal ein Hund überquert die Straße, nur ab und an ist ein feindlich blickendes Gesicht zu sehen, das sich durch einen Türspalt schiebt, weil die Neugierde doch größer ist als die Angst.
Die Demonstranten sammeln sich zum Zug der Siebzigtausend, ziehen durch die Felder auf das Kernkraftwerk zu, erregte Debatten darüber führend, wie weit sie gehen wollen. Die offizielle Parole lautet: Nicht bis zum Kernkraftwerk. Dann heißt es wieder, die Demonstrationsleitung habe beschlossen, doch bis zur Atomfestung vorzudringen. Paul geht mit Annegritt und den Genossen in der Mitte des Zuges. Vor ihm erstreckt sich die Schlange bis ins unendliche, eine dichte Menge aus Individuen, zur revolutionären Masse vereint. Hinter ihm dasselbe Bild. Ein riesiger Lindwurm fröhlicher, entschlossener, verängstigter Menschen. Von vorn hören sie eine Parole durch den Wurm branden: „Hopp, Hopp, Hopp, Atomkraftwerke Stopp." Die Menschen springen, wenn die Parole sie durch Tausende von Mündern erreicht, einmal kurz hoch, hüpfen und lassen den Ruf nach hinten weiter gehen. Es sieht aus, als werde die Menge von einer unsichtbaren Welle erfasst, hochgehoben und wieder fallengelassen. Die Woge brandet auf Paul zu, erfasst ihn, hebt ihn hoch, lässt ihn wieder fallen und läuft bis zum Ende des Wurms, um sich von dort wieder nach vorn zu bewegen. Paul spürt mit jeder Faser seines Körpers, was es heißen könnte, eine Revolution zu machen, welche Macht in diesem Lindwurm steckt. Die Meinung in seinem Teil des Zuges ist eindeutig: Bis zum Kraftwerk, koste es, was es wolle. Paul hat weiche Knie, aber er und Annegritt sind entschlossen. Sie werden sich soweit wie möglich mit nach vorne wagen, wenn es sein muss, bis an den Zaun. Aber eine innere Stimme warnt ihn: zu deutlich noch die Bilder der letzten großen Demonstrationen. Die Stacheldrahtzäune, in denen sich Demonstranten verfangen hatten, die von den Wasserwerfern zu Schlammwüsten verwandelten Wiesen auf denen sich die Kämpfenden wälzten, die Polizisten, die ohne Rücksicht auf alles einprügelten, was sich ihnen in den Weg stellte. Ein dicker Kloß steckt in seinem Hals. Er weiß nicht, wie er sich verhalten wird, wird sich einfach mitziehen lassen und sehen, was passiert. Dann - plötzlich - müssen sie mit ansehen, wie die Spitze des Zuges sich umwendet, sich auf den Feldern dreht und in einigen Kilometern Entfernung zurück ins Dorf windet. Den revolutionären Lindwurm hat der Mut verlassen, die Revisionisten in der Demonstrationsleitung haben sich durchgesetzt - es wird eine Abschlusskundgebung auf einer Wiese fern der Festung geben, und gut. Die Enttäuschung in Pauls Teil des Zuges ist groß. Eine Weile lang verhandeln sie untereinander, ob es Sinn macht, allein gegen die Burg zu ziehen, dann geben sie auf.
Ein paar Wochen später ermordet die Rote Armee Fraktion den Arbeitgeberpräsidenten. Paul kommt nach Hause und sieht seine Mutter in der Küche stehen und weinen. Man hat ein halbes Dutzend Terroristen tot in ihren Gefängniszellen gefunden und spekuliert öffentlich darüber, ob sie der Staat ermordet oder sie sich selbst ihr jämmerliches Leben genommen haben. Seine Mutter weint eigentlich nur, weil sie ihrer Regierung die Version des Massenselbstmordes nicht glaubt. Er hat sie noch nie so offen und verzweifelt gesehen.
Es ist sein innerer Abschied von der Bewegung, zu groß noch der Eindruck dessen, was die versammelte Menge alles hätte erreichen können. Die revolutionäre Woge hat ihn verlassen. Er will keine Plakate mehr malen, keine Flugblätter mehr verteilen, nur um zuzusehen, wie die versammelte Kraft sich freiwillig wieder zerstreut. Aber er will auch nicht Abgleiten in den immer noch revolutionär sich wähnenden Untergrund des bewaffneten Kampfes. Nach langen Diskussionen schließt sich Annegritt ihm an und gibt ebenfalls auf.
Paul macht Abitur und verfehlt deutlich die Zielvorgabe für ein eventuelles Jurastudium, zieht von zuhause aus, heiratet Annegritt und landet nach längerer Arbeitslosigkeit schließlich als 'Freier' Mitarbeiter bei einer Zeitung. Lokalredaktion, aber viel besser als Nichts. Ein Anfang.
Ein Anfang, der sich als Sackgasse herausstellt.
Jahrelang hat er es ausschließlich mit Berichten über die Jubiläen von Kaninchenzüchtervereinen, mit Schrebergärtenfesten und Kunstausstellungen in Autohäusern zu tun. Er hangelt sich so durch, während Annegritt ein Studium beginnt und Lehrerin werden will. Die Jugend – die nächste – soll die Revolution machen, da braucht es Pädagogen, die die Vergangenheit nicht vergessen machen. Nur eigene Kinder will man nicht. Man richtet sich ein, auf den langen Marsch durch das Nirgendwo einer satten Zeit. Paul beginnt, neben seinem Job, ein Fernstudium. Er liest Kafka und Beckett, hört zum ersten Mal die Namen Camus, Kierkegaard und Sartre und es beginnt die Hinwendung zur Philosophie, zur Wahrheitssuche und zu den großen intellektuellen Irrtümern. Kafka deprimiert ihn, weil er deprimiert ist. Becket ist wie eine Kugel in den Kopf, das Gehirn spritzt einem nach allen Seiten weg. Er liest die Romane nacheinander: Merciere und Camier, Murphy, Watt, Molloy, Malone stirbt, der Namenlose. Es tut ihm gut, zu wissen, dass es nicht nur im eigenen Gehirn so absolut chaotisch zugeht. Und natürlich 'Warten auf Godot'.
Sagt Vladimir zu Estragon: "Es ist sinnlos."
Estragon darauf zu Wladimir: "Noch nicht genug."
Braucht man mehr, um alles sinnlos zu finden und doch weiter zu leben?